Ein paar Recken formieren sich, um die Freiheit gegen die Zumutungen des Reformismus zu verteidigen. Kommentatoren wie Norbert Bolz nehmen aufs Korn, was an Neuerungen gefordert, und in Schutz, was an Althergebrachtem in Frage gestellt wird. So wird in Aspekte sinniert, dass der Mensch als solcher mit der Rettung der Welt überfordert würde. Getweetet, wer die Welt retten wolle, sei Krank. Alte Gewohnheiten, wie die Automobilität avancieren dabei zum Kernstück individueller Freiheit. Nun könnte ich mich auf die Gerechtigkeitsfrage zwischen den Generationen einlassen. Oder untersuchen, ob die von Norbert Bolz beschützten Geringverdienenden tatsächlich von erhöhten Spritpreisen benachteiligt würden, was ja voraussetzte, dass sie ein Automobil besäßen. Ich will aber – da ja z.B. Norbert Bolz die Freiheit gegen die Verantwortung ausspielt - eine für diese Auffassung von Freiheit relevante Frage stellen:
Washattadennur?
Zur paradigmatischen Beantwortung könnten wir uns vorstellen, ein solcher Liebhaber individueller Automobilität hätte in einem extramedialen Urlaub zweieinhalb Gesetzesinitiativen verschlafen und kehrte in seine nun autofreie Heimatstadt zurück. Seinen verständlichen Schock bei Abgabe des Sportcoupés kann er durch dessen Verkauf ins Ausland abfedern, womit er sich wahrscheinlich auch ein mehr als standesgemäßes Fahrrad kaufen kann, ohne seiner sozialen Degradierung entgegensehen sein zu müssen. Aber auch seine Umgebung hat sich verändert: Die mehrspurigen Straßen haben sich in langgestreckte Parks mit Fahrspur verwandelt, auf der nun unser Postautomobilist morgens seiner Erwerbsarbeit entgegenradelt. Anstatt klimatisierter Luft und Radiomusik ist er nun dem Duft des Morgentaus und dem Vogelsang ausgesetzt. Mit einiger Wahrscheinlichkeit benötigt er radelnd weniger Fahrzeit zu seiner Arbeitsstelle als zur Zeit motorisierter Rushhours samt ihren Staus – von der zur Finanzierung der Automobilität nötigen Arbeitszeit ganz zu schweigen. Auch die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel bringt ihm die neue Erfahrung ein sich auf seinen Wegen mit Fremden zu unterhalten.
Dort, wo die Automobile der Nachbarschaft standen, stehen jetzt eine Handvoll Fahrradständer, die aber Raum lassen für Beete, Sitzecken, Buddelkästen und vieles andere mehr. Da der Autolärm entfällt, kann sich unser Autoveteran nun an einem der Tische niederlassen und bei einem aus dem freigesetzten Mobilitätsgroschen finanzierten Drink einen Schnack mit den Nachbarn anzetteln. Er kann das Saatgut der Beete diversifizieren. Und überhaupt die Freizeit, von der hat er nach Deinvestition der Mobilitätskosten ca. drei Stunden mehr pro Woche, jeden Werktag also 36 Minuten. So lange sollte ich in meiner Jugend täglich Gitarre üben.
Mit dem Rückbau der autogerechten Stadt fiele seiner Stadt eine Menge an Baugrund, auf den locker der gesamte soziale Wohnungsbau Platz fände, in die Hände. Die Gentrifizierung würde sich mit einer komplementären Entwicklung verschwistert sehen, wodurch die Wohnkosten insgesamt fielen. Die Kommunikationsgemeinschaft an oben eingeführten Tischen würde zudem vielfältiger. Nun muss unser Butterkrebs der Mobilität sich ja nicht dazusetzen – aber er kann. Zu jedem in der neuen Vielfalt vertretenen Standpunkt kann er auf vielfältige Art Stellung beziehen. Er kann neue Suppenrezepte lernen und seine Gitarre entstauben.
Wer jüngst durch die Gassen einer autofreien Altstadt lief, weiß um die Lebhaftigkeit des sozialen Austauschs fernab des Automobils. In diesem belebten Sozialraum bieten sich auch viele Anknüpfungspunkte für Dienstleistungsberufe. Diese entstehen sozusagen direkt unterhalb des Balkons unseres Helden. Er könnte also auch einen von diesen ergreifen.
Meine Ärztin hat gerade eine Tabelle zur Ermittlung meines Herzinfarktrisikos ausgefüllt. Als sagte mein tägliches Verkehrsmittel sei das Rad, trug sie tägliche Bewegung ein – und siehe da, das Risiko sank beträchtlich. In einer autofreien Stadt müsste man hier nicht einmal das Unfallrisiko gegenrechnen. Das ist kein Hochleistungssport und passt gerade deswegen exakt zu meinen Bedürfnissen.
Die Veränderungen, die mit der Zurückdrängung des motorisierten Individualverkehrs einhergehen, wirken wie ein rückwärts abgespielter Film über diese Segnung der Moderne. Diese forderte zum einen das Individuum auf, eine individuell rationale Entscheidung zu treffen – z.B. die für das Auto als nur individuell besehen schnellstes Fortbewegungsmittel. Den in diesem Sinne vernünftigsten Bürgern versprachen die Vertreter dieses Modells eine komfortable Infrastruktur für die Verwirklichung. Zum einen normiert diese unseren gesamten Sozialraum zerschneidende Struktur unser aller Verhalten in allen Lebensbereichen. Zum anderen wird das Versprechen gegenüber dem Individuum nicht eingelöst: Es steht mit den anderen vernünftigen Bürgern in einer Großstadt ca. 150 Stunden pro Jahr im Stau.
Nimmt man jetzt noch die ökologischen Kosten der großen Normierung in den Blick, sollten wir solche missglückten Projekte der Moderne meiner Meinung nach rückabwickeln. Wohlgemerkt: Nicht die Moderne als Ganzes! Die spezifische Inventur würde uns natürlich zumuten Gewohnheiten aufgeben zu müssen. Haben wir diese schwere Arbeit geleistet, mögen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir uns mit mehr Ressourcen in einer vielfältigeren Umgebung wiederfinden. Unsere Strategien zur Alltagsgestaltung – von Mobilität bis Kommunikation – entsprechen dabei sogar stärker unsere Bedürfnisstruktur und fördern unsere Gesundheit. Ich komm nicht umhin zu konstatieren, dass das Verbot des motorisierten Individualverkehrs sogar die meisten seiner begeisterten Anhänger befreien dürfte -womöglich sogar Norbert Bolz. Manchmal brauchen wir dazu Aktivisten - unter anderem solche in Amt und Würden, die uns aus unserer Borniertheit helfen. Ihr Radikalismus ist die Axt, die das Eis unseres Beharrungsvermögens zerschlägt. Nach dem ersten Schreck werden wir dann viel leichter durchatmen!
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