Dem Palaver über die Boshaftigkeit des Menschen an und für sich können wir ganz unvorbereitet beispringen, da er einer allseits bekannten Choreografie folgt. Sie verbrüdert die Konspiranten und erhebt sie aus den Legionen des Übels. Dabei müssen sich die meisten eingestehen, dass die wahrhaft bösen Menschen in ihrem Alltag ungefähr so häufig sind wie lila Kühe. Aber wir wissen halt, dass Kühe lila sind!
Wollte ich das Böse fassen, müsste ich mit Thomas von Aquin voraussetzen, dass kein Wesen an sich schlecht sei. Die Gedanken hier handeln aber von diesem speziellen Wesen, über das wir so gerne schlecht reden, vom Menschen. Damit schließen wir an alte Traditionen an. Freud setzte allen die Krone auf, indem er das Über-Ich zusammenfabulierte, womit das Gute, die Moral zum wesensfremden Implantat mutierte. Der Operator, der übermächtige Vater, wurde zum eigentlichen Bösen, indem er uns wider unsere Natur zum Guten anhält. Das Implantat muss sich zeitlebens entzünden, da der Mensch entweder böse oder duckmäuserisch denken und handeln kann, womit Freud den modernen Menschen zur Neurose verdammt hat.
Nach Freud nahm die Psychologie die moralischen Empfindungen wieder als Teil der menschlichen Natur in den Blick. Tatsächlich zeigen schon Babys Empörung über Verhalten, dass sie als unmoralisch einstufen. Ihre moralische Entwicklung ist also bei weitem schneller, als Freuds Instanzenlehre erlaubt.[1] Dann kann man das der Moderne suspekte Phänomen evolutionsbiologisch entschuldigen. Dies erklärt wenigstens, warum es keine größeren Populationen selbstvergessener Asketen gibt. Vielleicht auch noch, dass Gemeinschaftlichkeit ein Überlebensvorteil einer Spezies zu sein scheint. Unsere Vorstellung vom Guten wertet aber Interaktionen, so dass eine Vorstellung einer guten Gesellschaftnicht weit ist. Und hier ermüdet die Evolutionstheorie.
Eine Kollegin begründete einmal ihre Ehescheidung mit dem Prinzip: „Wer ficken will, muss freundlich sein!“ Demnach ist die durch Moralität ermöglichte Solidarität nicht bloß ein Vorteil einer Art im struggle for life. Die moralischen Normen einer Gemeinschaft sind auch ein Selektionsmechanismus gegenüber so oder anders veranlagten Mitgliedern. Damit beißt sich das evolutive Modell in den Schwanz: Es scheint wohl gut, gut zu sein. Diese Rekursivität setzt allerdings voraus, dass Normen eben gemeinsamer Besitz, also das Ergebnis von Einigungsprozessen sind, die schon bei mäßiger sozialer Komplexität sprachlich bewerkstelligt werden. Der Motor der moralischen Empfindungen lässt uns Einigungen aushandeln, die wir als Moral ansehen. Die Moral tritt hier als eine vom Individuum unabhängige Grammatik des Guten auf.
Und nun kommt der Haken: Der von mir begrüßte Einigungsprozess ereignet sich nicht in einem idealen Diskurs, sondern eben in den schmuddeligen Verhältnissen, in denen wir uns zwischen Herrschaft und Ausbeutung durchwurschteln- oft genug zur berechtigten Empörung unserer Nächsten. Wir verhandeln weder vor noch nach der Schlacht, sondern mitten auf dem Schlachtfeld. In diesen Verhältnissen können unmoralische Normen durchaus Teil unserer Moral werden und erstaunlich lange dort verharren. Wir schützen diese Unmoral z.B., indem wir den Fremden allzu gern für böse ausrufen. Oder indem wir unsere Stiefelleckerei öffentlich schönreden.
Beides sind – neben anderen - ganz systematische Strategien bei der Aushandlung der Moral. Und die jeweils ausgehandelte Moral bevorteilt auch die ein oder andere Gruppe, die dann bereit ist, diese als Verteidigungswaffe von Status und Macht einzusetzen und zu konservieren. Ihr gegenüber bildet sich eine Gruppe, die begriffen hat, welches machtpolitische Potential in der moralischen Deutungshoheit liegt, und so eine Ideologie entwirft, die eben ihr diese zuspricht.
In großen, komplexen Gemeinschaften scheint diese Dialektik das Fortbewegungsmittel kultureller Entwicklung zu sein. Somit handeln Aktivisten beider Seiten auch nicht als Agenten des Bösen, sondern wie einander entgegengesetzte Anwälte. Wer aber besetzt den Richterstuhl?
Das Gute als Teil der menschlichen Natur ist Gegenstand sozial- und naturwissenschaftlicher Forschung, mit ihrer notwendigen Unschärfe, Gegenstand philosophischer Abhandlungen, mit ihrer unpraktischen Abstraktion. Und all diese Versuche das Gute zu fassen sind zudem noch vorläufig. Es ist da. Wir können es ein Stück begreifen, so wie wir auch andere Gegenstände nur weitgehend begreifen können. Und so weit können wir unsere Auffassung von ihm auch instrumentalisieren. Das tatsächliche Gute ist aber ein Gegenstand, steht also all diesen Bewegungen ein Stück weit entgegen. In seiner Widerständigkeit richtet es über die Ideologien, wie der beobachtete Gegenstand über die Theorien der Naturwissenschaft. Gehen irgendeinem Individuum die Zumutungen der Machthaber und Moralisten zu weit, stellt es sich plötzlich dagegen. Und erkennen andere sich in ihm wieder, erkennen sie ihre Moralität an ihm, schließen Sie sich womöglich an. Damit kehrt der Aufsatz aber in den fünften Absatz zurück: In die realpolitische Auseinandersetzung um das Gute.
Für unsere Zeiten, in denen progressive und reaktionäre Bewegungen global aufeinandertreffen, will ich Aktivisten warnen - oder ermutigen: Der Mensch ist - neben vielen anderen Eigenschaften - gut und sehnt sich so nach dem Guten. Damit ist – wie die Historie zeigt - eine gute Geschichte möglich. Muten wir aber dem Guten in unserer Natur aufgrund von Angst, Gier und Borniertheit allzu viel zu, stachelt es bislang Unpolitische auf, der Avantgarde und / oder den Mächtigen in den Arm zu fallen. Hören diese nicht, können die Aufgebrachten so ruppig werden, dass sie unwillige Akteure von der Bühne der Geschichte fegen.
[1] Bspe. Dazu: https://www.welt.de/wissenschaft/article1847275/Werden-wir-bereits-boese-geboren.html oder https://www.tagesspiegel.de/wissen/ursprung-der-moral/1251970.html
Diese Webseite wurde mit Jimdo erstellt! Jetzt kostenlos registrieren auf https://de.jimdo.com