… in der Zeit globalen Querdenkens

 

Das Internet weist einem das Schöne, Wahre und Gute als die Leitideen des 18. Jahrhunderts aus. Ungefähr seit dessen Ende darf man sich originell vorkommen, wenn man das Schöne als Geschmackssache, das Wahre als Perspektivfrage und die Auffassung des Guten als Privatangelegenheit abtut. Es scheint geradezu so zu sein, dass die Demontage dieser Begriffe als Voraussetzung für jede nur denkbare Emanzipation erscheint. Eine Gemeinschaft kann sich aber nur Gestalt geben, indem der dazu nötige Streit gemeinsame Bezugspunkte hat. Mit Streit meine ich das Gespräch im Konflikt über die Gestaltung der Gemeinschaft und das braucht geteilten argumentativen Grund. Frisst sich der Streit im Treibsand der Beliebigkeit fest, erscheint immer mehr Gruppen der Kampf als vorzügliche Alternative. Aber nur, weil wir einer Grundlegung der Argumentation bedürfen, ist sie noch lange nicht vollbracht. Allerdings benötigt es keine Deduktion der grundlegenden Begriffe. Vielmehr definiert die Einigung auf solche eine Gemeinschaft. Und die drei genannten Begriffe sind auch nicht alternativlos.

 

Während allerdings die intellektuelle Avantgarde die Leitbegriffe letztgültig demontiert zu haben glaubte, wurden sie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen pragmatisch modifiziert und weiter benutzt, sobald dort neue Gemeinschaftsprojekte realisiert werden. Politische und ökonomische Eliten bilden aber Ideologien heraus, die dem Menschen als Gattung die Fähigkeiten zur Vergemeinschaftung absprechen und damit die Führung durch eben diese Eliten begründen. Diese Ideologien können sich am Skeptizismus vordem emanzipativer Bewegungen bedienen. Sagten die emanzipativen Bewegungen, dass sie nicht mehr dem überkommenen und ihre Rechte verletzenden Gesellschaftsvertrag folgen und auch seine Begründungen nicht mehr folgen wollen. Der Neoliberalismus ist die Avantgarde einer solchen Ideologie. Er behauptet, dass der Mensch, wird er weder beherrscht noch bestochen, nicht vertragsfähig wäre. Allerdings erstarke in der Deregulierung die unsichtbare Hand des Marktes, die all das wozu der Mensch zu inkompetent und schlecht sei, aufs Wunderbarste regele.

 

Ich will also ein paar Gedanken zum Schönen, Wahren und Guten skizzieren.

 

Für die jeweils verschiedenen als schön kategorisierten Produkte gelten jeweils wesentlich andere Distributionsbedingungen. So kann Musik so gut konserviert und vervielfältigt werden, dass mit ihr einerseits nur wesentliche Einnahmen gemacht werden können, sobald sie den Geschmack vieler Konsumenten in einer von anderen Produzenten unterscheidbaren Qualität bedient. Relativiert wird diese Anbindung an den trivialen Geschmack durch die Effekte des Digitalen, die es jedem Konsumenten ermöglichen jede Musik weltweit  zu hören. Aber selbst eine Community eines abseitigen Musikstils ist global aufsummiert eine große Gruppe, so dass die Maßstäbe an Musik auch hier das Ergebnis komplexer Einigungsprozesse ist.

 

Musikwissenschaftler finden zudem auch in Musikstilen unterschiedlicher Abstammungslinien erstaunliche Gemeinsamkeiten: Die Oktave, die Taktarten und Rhythmen. Leibniz sagte, Musik sei wenn die Seele zähle. Die musizierende Menschheit scheint ein Schwarm improvisierender Mathematiker zu sein. In einer konkreten Gruppe wird ein bestimmter Teil dieser Möglichkeiten realisiert und als regelhaft angesehen. Nun gibt es drei mögliche Abweichungen von der Regel: Die Unfähigkeit, den Trotz und die Innovation.  Bei der ersten halten wir uns erschrocken die Ohren zu. Wir haben eine ganz unmittelbare Beziehung zum Wohl- bzw. zum Missklang. Und diese Intuition der Hörer ist ein konservatives Element gegenüber der Entwicklung der Musik. Nun löst sich das Unwohlsein beim Hören unfähiger Musiker nicht auf, was jeder weiß, der solche als Nachbarn hat. Indem sich eine Gemeinschaft auf Regeln einigt, ermöglicht sie die Statthaftigkeit der Regelsetzung als solche in Frage zu stellen. Die Vergemeinschaftung geschieht durch die Einigung auf Regeln – und genau die ermöglicht den Trotz: Warum soll ich mich eigentlich an die Tonleiter halten? Wenn dieser Skeptizismus der einzige Motor musikalischen Schaffens ist, rufen die Produkte bei den Hörern meist nur Schulterzucken hervor. Ich mein, niemand zwingt dich, die Tonleiter zu benutzen. Ich frag mich bloß, warum ich mir deine atonale Trotzphase anhören soll. Aber im Trotz kann schon das Samenkorn zur Neuheit liegen. Der Verstoß gegen aktuelle Regeln kann neue Regelhaftigkeit vorbereiten. Die Mehrheit der Hörer wird hier ebenso mit zugehaltenen Ohren und Schulterzucken reagieren. Neue Regelwerke werden – ganz und gar zutreffend - zudem als eine Gefährdung eingespielter Hierarchien taxiert. Aber ausgehend von einer Subkultur kann ein neues Musikverständnis Fuß fassen.

 

Zusammen heißt dies, dass es aktuell und lokal immer intuitiv erfassbare Regeln der Musik gibt. Damit gibt es in jedem Augenblick an jedem Ort in der Musik die Idee des Schönen. Diese stellt aber die Freiheit der Musiker und der Zuhörer nicht in Frage, da sich die Musik durch den Dialog von Hörern und Machern, und den Austausch über Stilgrenzen hinweg ständig entwickelt.

 

In der bildenden Kunst gab es eine Zeit lang die Debatte, ob die Abwesenheit ästhetischer Maßstäbe die Kunstwerke zu Anlageobjekten degradiere. Hier steht dass Objekt noch ganz im Mittelpunkt der ökonomischen Beziehungen. Ein Künstler produziert ein Werk, dass er an einen Käufer veräußert. Dieser Käufer muss aber nicht notwendigerweise am ästhetischen Wert des Werks interessiert sein. Unbelastet von eigenen Geschmacksurteilen kann er das Werk als Anlageobjekt veranschlagen. So kann geradezu eine Avantgarde entstehen, denen die Neuartigkeit als Alleinstellungsmerkmal des Anlageobjekts über dessen ästhetische Einschätzung geht. Damit übertreffen sie die Dadaisten an dekonstruktiver Potenz.

 

Die bildenden Künstlerinnen und Künstler, die aktuelle ästhetische Kategorien in ihren Werken ausformulieren, sich an ihnen abarbeiten und neue formulieren wollen aber einfach nicht aussterben! Für sie gilt Ähnliches wie für die Musiker schon ausgeführt. Auch hier gibt es Kategorien und Mittel, die seltsam exakt anmuten: Symmetrie, goldener Schnitt, Fluchtpunktperspektive zum Beispiel. Der Fundus solcher gestalterischen Mittel ist groß und er kann selbstredend fortgeschrieben werden, so dass wieder Verlässlichkeit und Freiheit harmonieren.

 

Als letztes Beispiel unter den unzähligen Künsten wende ich mich dem Erzählen zu. Es ist geradezu unsere alltäglichste Kunstform: Wir lesen kurze und lange Erzählungen und natürlich schauen wir sie. Die große Masse der Erzählungen erschöpft sich im Anspruch der Unterhaltung. Damit gelten zu ihrer Gestaltung psychohygienische Maßstäbe: Vertraute Themen und Formen entspannen den Leser. Die Darstellung von Sex erregt. Gewaltdarstellung, insbesondere exzessive sollen über entsprechende Hormonausschüttungen das Bindegewebe straffen. Dies alles ist ganz unbedenklich, insoweit wir diese Funktionen entsprechender Erzählungen ironisch reflektieren können. Wir halten aber häufig die Realität dieser Erzählungen für die Welt da draußen, die sich der subjektiven Empirie aus Berufs- und Privatleben entzieht, und uns genauso ängstigt, wie die Monster unterm Bett. Wer diese Ängste nicht teilt, wird oft als naiv belächelt. Warum weiß er nicht, dass die Welt schlimmer geworden ist und schlimmer werden wird?

 

Wir erzählen uns aber auch Geschichten, um uns mit Symbolen auszustatten, die unser Gespräch über die Gestaltung der Welt erleichtern sollen. Diese müssen sich der Kritik stellen, welche Entwürfe sie ermöglichen. Wir reflektieren in Erzählungen unsere Vergangenheit, sowohl zur Selbstvergewisserung als auch zur moralischen Aufarbeitung. Und schließlich erzählen wir uns von der Zukunft, als wäre sie eine solche Vergangenheit. All dies kann nur geschehen, indem ein Repertoire erzählerischer und sprachlicher Mittel genutzt und erweitert wird. Dies schließt sich mit den psychohygienischen Funktionen des Erzählens nicht aus. Ein wenig Erregung fördert das Hören. Und straffes Bindegewebe ist ja nichts Schlechtes.

 

Die Erzählstrukturen sind ziemlich träge kulturelle Errungenschaften. Und sie sind nicht wertfrei. Es macht einen Unterschied, ob die allgemeinverbindliche Erzählung einer Gemeinschaft Gott mit dem Herrscher identifiziert oder ob das erste Gebot lautet: Ich wurde dir zum Gott, indem ich dich aus dem Sklavenhaus befreite. Ein naiver Moralist, der diese Wendung des Erzählens begriffen hat, wird die zurückliegende Erzählweise als Missklang empfinden oder ironisch goutieren. Wir können diese Neuerung kaum unterschreiten. Die Frage ist fortan, wie und ob wir sie überschreiten können.

 

Nun müsste ich noch für alle anderen Künste einen Absatz anfügen. Bestimmt wäre interessant, die Kochkunst auf Freiheitsgrade und Entwicklungsfähigkeit abzuklopfen. Auch die Mathematik könnte man als Kunst der Syllogismen beschreiben. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich muss mich jetzt einen Abschnitt weiter begeben. Das Wahre harrt der Behandlung. Wir haben Epochen hinter uns gelassen, in denen steile Hierarchien mit dem Verweis auf transzendente Gewissheiten definierten, was wahr, ja, was die Wahrheit sei. Diese Hierarchien lösten die moralischen Ansprüche ausgerechnet des Offenbarungstextes, der ihre Definitionsgewalt begründen sollte, nicht ein. Aber auch ohne diesen peinlichen Widerspruch müssen sich Glaubensgemeinschaften irgendwann der Tatsache stellen, dass sowohl das Faktenwissen als auch die gesellschaftliche Moral über die Festlegung der Offenbarung hinausgeht, ohne dass diese dem etwas Prinzipielles entgegensetzen kann.  Damit erschien der Wahrheitsbegriff als solcher in Zweifel gezogen und dieser grundsätzliche Skeptizismus wird seit dem immer wieder in Stellung gebracht, wenn Wahrheitsansprüche relativiert werden sollen, was durchaus ganz irdische Motive haben kann.

 

Diesem emanzipativen Skeptizismus zum Trotz, entscheiden wir in allen möglichen Zusammenhängen über wahr oder unwahr. Auf der einen Seite scheint Wahrheit ganz pragmatisch das Wissen zu meinen, was eine Gemeinschaft ihren Entscheidungen als verlässlichen Bezugspunkt zugrunde legt. Dies erscheint ganz und gar konventionalistisch. Wahr ist, was ein verlässliches Gespräch ermöglicht. Wir haben aber durchaus dezidierte Vorstellungen darüber, was gute Garanten eines verlässlichen Diskurses wären. So identifiziert die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston vier epistemische Tugenden: Gewissheit, Wahrheit, Präzision und Objektivität. Die Gewissheit als die Herleitbarkeit aus unhintergehbaren Grundannahmen, die Wahrheit als Entsprechung von Erfahrung und Idee, die Präzision als genaue Abbildung und die Objektivität als Unabhängigkeit der Darstellung von subjektiver Projektion. Es geht in der Wissenschaft darum, diese Tugenden miteinander auszusöhnen, was nicht abschließend möglich ist. Verschiedene Epochen verschieben auch die Präferenz zwischen den Tugenden. Bei der epistemischen Tugend der Wahrheit gibt Daston ein interessantes Beispiel. Ein Botaniker könnte sagen, die Blätter dieser Baumart seien symmetrisch. Seine Daten über die Blätter werden also in Beziehung gesetzt zur Idee der Symmetrie. Diese kennen wir aber aus der bildenden Kunst. Beschreiben Wissenschaftler zeitliche Zyklen, greifen sie unwillkürlich auf Ideen zurück, die wir auch aus der Musik kennen. Dass sie in der Mathematik reich fündig würden, ist ein Allgemeinplatz. Wahrheit als eine der epistemischen Tugenden hat also eine ästhetische Seite. Es ist durchaus fraglich, ob die Definitionsgewalt des Klerus eher durch emanzipatorische Bewegungen zurückgedrängt wurde oder sich durch das Angebot der Wissenschaft erübrigte. Die Wahrheit als epistemische Tugend hat meiner Ansicht nach einen besonderen Status, weil nur sie Aussagen formulieren kann, die in anderen Diskursen zitierbar werden. Die Gewissheit fordert den Anschluss an verlässliche Wissensbestände, die Präzision die Differenziertheit der Erfahrung, die Objektivität eine interpretatorische Redlichkeit. Aber erst die ausformulierte Wahrheit, die Verbindung der Erfahrung mit der Idee, ist es wert, aus den Kämmerlein der Wissenschaftler hinausgereicht zu werden. Die Vielfalt wissenschaftlich begründeter Wahrheiten bildet den Fundus verlässlichen Wissens, auf das sich gesellschaftliche Diskurse beziehen lassen.

 

Nun gibt es tatsächlich keine wissenschaftliche Wahrheit, die nicht morgen revidiert werden könnte. Sagen wir heute, Ahornblätter seien symmetrisch, entdecken wir mit Sicherheit morgen relevante Abweichungen von dieser Aussage. Die Tugend der Präzision wird uns diesen Eklat bescheren. Bewältigt ist er, wenn wir die Abweichung von der Symmetrie in Beziehung zu anderen Ideen setzen, also ergänzende Wahrheiten formulieren. Es kann uns sogar passieren, dass die Aussage ganz und gar nicht wahr ist, dass die Form von Ahornblättern mit der Idee der Symmetrie nicht im Entferntesten in Beziehung steht. Und auch dann fordern wir der Wissenschaft ab, eine neue Idee zu suchen, mit der die Erfahrungen mit Ahornblättern in Beziehung gesetzt werden kann. Insgesamt wird der Fundus verlässlichen Wissens, auf das sich die Institutionen unserer Gesellschaften beziehen, von seiner ständigen Revision nicht beschädigt. Im Gegenteil gründet die globale Verlässlichkeit wissenschaftlicher Wahrheit auf der ständigen Revision von Wahrheiten. Verlässt sich dagegen eine Gesellschaft auf religiöse Wahrheiten, scheint es riskant eine einzige davon zu revidieren, womit es ratsam scheint, Kritiker zu liquidieren. Umgeht jemand diese Hürde, bringt er das System religiöser Gewissheiten leicht zum Einsturz. Der Unterschied scheint mir dem ähnlich, den Machiavelli zwischen den deutschen Landen und dem türkischen Sultanat diagnostizierte: Jedes deutsche Fürstentum ist leicht zu besiegen. Der Eroberer hat aber kaum Gebiet gewonnen und sieht sich nur dem nächsten Fürsten gegenüber. Die osmanische Armee zu besiegen erscheint eigentlich unmöglich. Schaffte jemand dies doch, fiele ihm das ganze osmanische Reich ohne weitere Gegenwehr in den Schoß. Der meisterhafte Diagnostiker der Macht vergaß an der Stelle aber zu analysieren, was geschehen würde, wenn die deutschen Lande eben nicht von einer Großmacht, sondern von unzähligen Grüppchen, aus allen Richtungen, von außen und innen mit je subjektiver Motivation angegriffen würden. Dieses Szenario mahnt an den dreißigjährigen Krieg.

 

Nun verlassen sich die meisten von uns ganz gerne auf die Wissenschaft, weil diese der Technik ermöglicht nette Dinge zu konstruieren. Wir sind damit aber noch keine Freunde wissenschaftlichen Wahrheitsstrebens, sondern z.B. nur begeisterte Handynutzer. Gründete allein darin die Zustimmung zum besonderen Status der Wissenschaft, müsste man sie als Korruptionsfall zurückweisen. Hier fehlt noch eine Kategorie der Reflexion.

 

Ich brauche noch den Begriff des Guten, um ermessen zu können, wozu verlässliches Wissen, umgangssprachlich Wahrheit, notwendig ist. Wem umgangssprachlich Wahrheit etwas bedeutet, findet in Wissensbeständen die der epistemischen Tugend Wahrheit genügen, eine verlässliche Grundlage. Ich kann nicht auf die Schnelle die Letztbegründbarkeit moralischer Urteile überreißen oder ähnliche Salti vollbringen. Mir reichen zwei recht triviale Annahmen. Eine Anzahl von Menschen wird zu einer Gemeinschaft, indem ihre auf die Anderen bezogenen Handlungen bestimmten moralischen Ansprüchen genügen. Diese Auffassung von Gemeinschaft geht über die einer geteilten Eigenschaft hinaus, verträgt sich aber besser mit unserer alltäglichen Intuition. Oft wird gesagt, eine geteilte Eigenschaft definiere eine Gemeinschaft oder moderner Community. Nun ist aber vorstellbar, dass eine Gruppe mit geteilter Eigenschaft ein essentielles Projekt betreibt. Z.B. könnten eine Handvoll blonder Studienräte einen Rettungskahn steuern. Vielleicht ist ihre Kooperation so unterirdisch schlecht, dass sie den Kahn ohne äußere Not versenken. Gefragt, woran sie gescheitert seien, könnte jemand antworten: „Sie haben keine Gemeinschaft gebildet!“

 

Diese Antwort trifft ins Schwarze, obwohl die Ertrunkenen sich einen ganzen Sack voll Eigenschaften teilten. Es wäre wohl besser gelaufen, wenn jeder von Ihnen seinem Handeln eine auf die Kooperation bezogene Moral zugrunde gelegt  hätte. Dabei wäre nicht einmal notwendig gewesen, dass diese Moralvorstellungen miteinander deckungsgleich gewesen wären. Dies und jenes hätte man noch unter Wind aushandeln können.

 

In anderen alltäglichen Situationen weisen wir unser Gegenüber darauf hin, dass es einem Dritten gegenüber diese oder jene Verpflichtung habe. Es gibt offenbar Menschen, die zu unserer Gemeinschaft gezählt werden müssen, auch wenn wir sie nicht oder bislang nicht dazugerechnet haben. In einer Epoche weltumspannender Lieferketten ist dies ein nicht immer trivialer Punkt. In der Arbeitsteilung modernen Wirtschaftens sind wir aufeinander angewiesen, womit wir für unsere die Partner unseres Wirtschaftens und die durch seine Folgen betroffenen verantwortlich sind.

 

Naturgemäß hätten die blonden Studienräte sich die Steuerung des Kahns sehr erleichtert, wenn sie sich auf einen Commonsense , eine Schnittmenge ihrer Moralvorstellungen hätten beziehen können. Eine solche Konvention konstruiert keine Moral, erleichtert aber ihre Anwendung. Nun könnte einer von ihnen seine Moralvorstellungen durchsetzen. Warum es aber unbedingt seine sein sollten, kann er nicht begründen. Wenn er dies doch täte, eröffnete er eine Verhandlung über die Gültigkeit der verschiedenen moralischen Sätze. Diese wird aber nur notwendig, insofern sich die eingebrachten Sätze widersprechen. Ansprüche könnten zum Beispiel aus unterschiedlichen Bedürfnissen folgen. Der Gesprächsbedarf folgt in jedem Fall aus der Diversität der Kooperationspartner, nicht aus ihrer Identität. Was die Verhandlungspartner benötigen sind gemeinsame Kriterien, mit denen sie zwischen widerstreitenden Positionen entscheiden können bzw. den Widerstreit in einer Synthese aufheben können. Dafür müssen sie sich gegenseitig als kompetente Verhandlungspartner anerkennen. Ist jemandem das ewige Debattieren zu lang, so dass er die Abkürzung in der Herrschaft über die anderen sucht, können diese auf die gleiche Idee kommen. Bald kann den Gockeln schon wesentlich rationaler erscheinen, den zur sinnvollen Unterordnung Unfähigen den Scheitel mit dem  Paddel zu ziehen. Die Debatte über den Weg zu einer gemeinsamen Moral scheint sich nicht mit Herrschaftsansprüchen zu vertragen. Die Teilnehmer sollten in diesem Sinne frei sein.

 

Nun sind die Insassen des Kahns gar nicht so gleich, wie ich sie eingeführt habe. Ich hätte ebenso gut ein Strauß an Eigenheiten und Unterschieden darstellen können. Wesentlich ist, dass eben diese Unterschiede der Inhalt des moralischen Diskurses sind. Damit erfordert dieser Diskurs aber, dass jeder Teilnehmer, um mit den anderen zu reden, sie in ihrer wesentlichen Unterschiedlichkeit imaginiert. Und dieses Bild des Anderen  muss jeder zur Debatte stellen. Wenn ich mit den Anderen sprechen will, muss ich über sie sprechen. Dies muss ich gerade dort, wo ich mit dem anderen als Fremden kooperieren will. Wo er mit mir identisch ist, erübrigt sich die ganze Debatte. Wo ich ihn beherrschen will, gehen seine Eigenheiten nur in mein strategisches  Kalkül ein, das ich aus taktischen Gründen nicht veröffentlichen sollte. Nebenbei: Gemeinschaftsbildung ist grundsätzlich eine gute Strategie.

 

Gehe ich das Wagnis der Gemeinschaft ein, stelle ich mich dem Anspruch der Kooperation, und damit dem Anspruch der Fürsorge. Diese meint aber den konkreten Anderen mit seinen verschiedenen Bedürfnissen. Der Mensch braucht Luft zum Atmen, weswegen der Kahn nicht untergehen sollte. Menschen brauchen Nahrung, wobei sie einen unterschiedlichen Geschmack haben können. Sie befinden sich in unterschiedlichsten Lebenslagen und bringen verschiedenste Erfahrungen mit. Wenn meine Fürsorge dem konkreten Anderen gerecht werden soll, brauche ich ganz empirisches Wissen, eben Wahrheiten mit Bezug auf den konkreten Anderen, und Kompetenzen zur Umsetzung der Fürsorglichkeit. Will ich auch den Fernsten lieben, kann ich dies nicht aus einem direkten Abstimmungsprozess seiner Bedürfnisse tun. Ich brauche vielmehr verlässliches Wissen über ihn, seine Verhältnisse und die für die Fürsorge notwendigen Ressourcen. Ich muss mich dem Wissen über unsere gemeinsame Geschichte stellen. Dies alles finde ich in einer Auswahl wissenschaftlicher Wahrheiten, die sich an den Zwecken der Fürsorge und Kooperation messen lassen muss. Der Andere muss das Gleiche von seiner aktuellen und lokalen Identität aus tun, die sich - wie auch meine – aus einer Reihe von Zufällen ergibt. Wesentlicher ist das Ziel: Es gilt, Institutionen – ob nun Firma oder Behörde - zu erschaffen und zu pflegen, in denen diese achtsame Interaktion gut aufgehoben ist. Jede Technik muss solche Institutionen für ihr alltägliches Handeln ausstatten.

 

Nachdem das Schöne, Wahre und Gute als abgeleitete und verordnete Kategorien abgetreten sind, hat sich ein ironischer Diskurs über sie erhalten, in dem wir immer noch so tun, als wäre ihre radikale Dekonstruktion alternativlos. Eine Praxis, die sich auf Modelle bezüglich dieser Kategorien stützt, diese fortschreibt und dazu die eine aus mit Elementen der anderen ausrüstet, beweist ganz profan das Gegenteil. So müsste sich ein Freund der Aufklärung in Sicherheit wiegen, da sich deren Werte in Alltagspraxis übersetzt haben. Die Bezugnahme auf wissenschaftlich belegte Aussagen und das rationale Argument erscheinen immer noch als das Optimum in der Kommunikation zwischen den Fremden.

 

 Beim  Jugendlexikon meiner Frau ist ein Band mit Von Geist bis Info betitelt. Diesen alphabetischen Zufall halte ich für prophetisch. Das Informationszeitalter zeichnet sich dadurch aus, dass einige Großkonzerne unsere Sehnsucht uns gegenseitig zu informieren zu unserer Ausbeutung nutzen. Daher kann jede und jeder Informationen hochladen, die ohne jede epistemische Tugend verfertigt wurden und allzu oft schlicht unwahr wenn nicht zielgerichtet gelogen sind. Sie erwerben sich aber ganz unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt den Status verlässlichen Wissens für eben die Blase die sie selbst erzeugen. Ein sogenannter Querdenker ist eben kein origineller Teilnehmer eines allgemeinen Diskurses mehr, sondern ein Mitglied einer global vernetzten, sich abschottenden und ihre Lügen festschreibenden Community. In Gesellschaften mit einer robusten Zivilgesellschaft sind solche querdenkenden Blasen eine nur sporadisch wirksame Randerscheinung. Da, wo ökonomische Ungleichheit die Zivilgesellschaft schwächt, gewinnen sie gefährlich an Raum.

 

Die Querdenker in der Coronakrise sind aber keine historische Kuriosität. Die Neigung der technischen Mittel der sozialen Netzwerke zur Blasenbildung synergieren hier mit dem Siegeszug des Identitätsbegriff als Label politischer Strategien. Der Identitätsbegriff ist in seiner politischen Verwendung antiaufklärerisch und die längste Zeit DNA der Rechten. Linke Identitätspolitik stellt nach meinem Verständnis ein Oxymoron dar. Die Methoden zur gesellschaftlichen Dominanz der Rechten wurden schlicht umetikettiert: Cancel Culture, Deplatforming, kulturelle Aneignung sind Begriffe in Strategien die so auch von Rechten seit jeher betrieben werden.  Zusammengenommen erteilen sie der Kommunikation unter Fremden mit dem dazu notwendigen Gespräch über den Fremden eine Absage. Übrig bleiben Logiken des Kampfes, allzu oft mit den Waffen der sozialen Medien. Die Flut der Informationen, die von dieser oder jener Blase als verlässliches Wissen genommen werden, ist so groß, dass niemand sie mit der Achtsamkeit epistemischer Tugenden revidieren kann. Die Produzenten setzen sie eh im Kampf ein, womit sie an der Revision nicht interessiert sind.

 

Ein weiteres Problem für einen aufgeklärten politischen Diskurs ist, dass zu vielen Themen – Klimawandel, soziale Ungleichheit, Epidemiologie – wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die in ihrer Klarheit die moralische Integrität politischer Eliten herausfordern. Aber selbst in den Demokratien rund um den Globus paktieren diese mit den ökonomischen Eliten in den Verzögerungstaktiken gegenüber notwendigen Reformen. Nimmt man die genannten Themen zusammen, scheint das geradezu ihr Kerngeschäft. Damit weisen Politiker epistemisch sorgfältig arbeitenden Wissenschaftlern den gleichen Einfluss zu, wie sich Querdenker aller Couleur ihn sich ohne diesen Aufwand erwerben können.

 

In Europa konnte der dreißigjährige Krieg beendet werden, indem die Staaten sich - auch militärisch – neu strukturiert haben. Diese ersten Maßnahmen lösten eine Folge von Entwicklungen aus, die nach blutigen Wechselfällen eine Demokratisierung der beteiligten Länder ermöglichte. Wenn man die Wahl Trumps, den Brexit, den Völkermord an den Rohingya und viele andere Phänomene betrachtet, scheint dem Informationszeitalter eine ähnliche Tendenz wie dem dreißigjährigen Krieg innezuwohnen: Sich willkürlich formierende Akteure ziehen mit die Wahrheit geringschätzenden Informationsstrategien in diese und jene politische Auseinandersetzung. Und bevor der Wahrheitsgehalt ihrer Informationssplitter überprüft und bekannt gemacht werden kann, haben sie schon ihre Wirkung entfaltet. Ein Land verlässt einen Wirtschaftsraum, bevor die betrügerische Natur der betriebenen Kampagne zutage tritt. Ein Völkermord schreibt sich in einer Schleife  gegenseitiger Erregung fort. Große Bevölkerungsanteile der ältesten Demokratie, halten wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse für Propaganda. Pressure Groups betreiben medialen Kampf für die je intern ausgerufene gute Sache. Und die zuschauenden Diktatoren und Autokraten halten zunehmend Demokratie für ein schwaches und mit instrumentalisierter  Information angreifbares Gesellschaftsmodell. Setzt sich diese Tendenz durch, zerfällt die Welt in sich nur ihrer Identität bewussten Kampfverbänden, die Souveränität nur auf Kosten des Feindes kennen und individuelle Freiheit der Loyalität im Kampf unterordnen.

 

Jede und jeder, den diese Perspektive gruselt, muss nach Mitteln suchen, wie das Projekt Aufklärung – losgelöst vom europäischen Besitzanspruch am solchen – dazu ausgerüstet werden kann, um  den informativen Söldnerkrieg zu unterbinden. Die Technikkonzerne des Informationszeitalters müssen darin kooperieren oder ihre eigene Kastration akzeptieren. Erst wenn so oder so eine Befriedung gelingt, kann das Informationszeitalter stetig positive gesellschaftliche Entwicklungen ermöglichen. In der Praxis dieser Entwicklung werden ihre diversen Akteure ihre Schritte wohl wieder am Schönen, Wahren und Guten messen – auch wenn ihr Verständnis der drei in dieser Bewegung ständig selbst überarbeitet wird.

 

 

 
   

 

… in der Zeit globalen Querdenkens

 

Das Internet weist einem das Schöne, Wahre und Gute als die Leitideen des 18. Jahrhunderts aus. Ungefähr seit dessen Ende darf man sich originell vorkommen, wenn man das Schöne als Geschmackssache, das Wahre als Perspektivfrage und die Auffassung des Guten als Privatangelegenheit abtut. Es scheint geradezu so zu sein, dass die Demontage dieser Begriffe als Voraussetzung für jede nur denkbare Emanzipation erscheint. Eine Gemeinschaft kann sich aber nur Gestalt geben, indem der dazu nötige Streit gemeinsame Bezugspunkte hat. Mit Streit meine ich das Gespräch im Konflikt über die Gestaltung der Gemeinschaft und das braucht geteilten argumentativen Grund. Frisst sich der Streit im Treibsand der Beliebigkeit fest, erscheint immer mehr Gruppen der Kampf als vorzügliche Alternative. Aber nur, weil wir einer Grundlegung der Argumentation bedürfen, ist sie noch lange nicht vollbracht. Allerdings benötigt es keine Deduktion der grundlegenden Begriffe. Vielmehr definiert die Einigung auf solche eine Gemeinschaft. Und die drei genannten Begriffe sind auch nicht alternativlos.

 

Während allerdings die intellektuelle Avantgarde die Leitbegriffe letztgültig demontiert zu haben glaubte, wurden sie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen pragmatisch modifiziert und weiter benutzt, sobald dort neue Gemeinschaftsprojekte realisiert werden. Politische und ökonomische Eliten bilden aber Ideologien heraus, die dem Menschen als Gattung die Fähigkeiten zur Vergemeinschaftung absprechen und damit die Führung durch eben diese Eliten begründen. Diese Ideologien können sich am Skeptizismus vordem emanzipativer Bewegungen bedienen. Sagten die emanzipativen Bewegungen, dass sie nicht mehr dem überkommenen und ihre Rechte verletzenden Gesellschaftsvertrag folgen und auch seine Begründungen nicht mehr folgen wollen. Der Neoliberalismus ist die Avantgarde einer solchen Ideologie. Er behauptet, dass der Mensch, wird er weder beherrscht noch bestochen, nicht vertragsfähig wäre. Allerdings erstarke in der Deregulierung die unsichtbare Hand des Marktes, die all das wozu der Mensch zu inkompetent und schlecht sei, aufs Wunderbarste regele.

 

Ich will also ein paar Gedanken zum Schönen, Wahren und Guten skizzieren.

 

Für die jeweils verschiedenen als schön kategorisierten Produkte gelten jeweils wesentlich andere Distributionsbedingungen. So kann Musik so gut konserviert und vervielfältigt werden, dass mit ihr einerseits nur wesentliche Einnahmen gemacht werden können, sobald sie den Geschmack vieler Konsumenten in einer von anderen Produzenten unterscheidbaren Qualität bedient. Relativiert wird diese Anbindung an den trivialen Geschmack durch die Effekte des Digitalen, die es jedem Konsumenten ermöglichen jede Musik weltweit  zu hören. Aber selbst eine Community eines abseitigen Musikstils ist global aufsummiert eine große Gruppe, so dass die Maßstäbe an Musik auch hier das Ergebnis komplexer Einigungsprozesse ist.

 

Musikwissenschaftler finden zudem auch in Musikstilen unterschiedlicher Abstammungslinien erstaunliche Gemeinsamkeiten: Die Oktave, die Taktarten und Rhythmen. Leibniz sagte, Musik sei wenn die Seele zähle. Die musizierende Menschheit scheint ein Schwarm improvisierender Mathematiker zu sein. In einer konkreten Gruppe wird ein bestimmter Teil dieser Möglichkeiten realisiert und als regelhaft angesehen. Nun gibt es drei mögliche Abweichungen von der Regel: Die Unfähigkeit, den Trotz und die Innovation.  Bei der ersten halten wir uns erschrocken die Ohren zu. Wir haben eine ganz unmittelbare Beziehung zum Wohl- bzw. zum Missklang. Und diese Intuition der Hörer ist ein konservatives Element gegenüber der Entwicklung der Musik. Nun löst sich das Unwohlsein beim Hören unfähiger Musiker nicht auf, was jeder weiß, der solche als Nachbarn hat. Indem sich eine Gemeinschaft auf Regeln einigt, ermöglicht sie die Statthaftigkeit der Regelsetzung als solche in Frage zu stellen. Die Vergemeinschaftung geschieht durch die Einigung auf Regeln – und genau die ermöglicht den Trotz: Warum soll ich mich eigentlich an die Tonleiter halten? Wenn dieser Skeptizismus der einzige Motor musikalischen Schaffens ist, rufen die Produkte bei den Hörern meist nur Schulterzucken hervor. Ich mein, niemand zwingt dich, die Tonleiter zu benutzen. Ich frag mich bloß, warum ich mir deine atonale Trotzphase anhören soll. Aber im Trotz kann schon das Samenkorn zur Neuheit liegen. Der Verstoß gegen aktuelle Regeln kann neue Regelhaftigkeit vorbereiten. Die Mehrheit der Hörer wird hier ebenso mit zugehaltenen Ohren und Schulterzucken reagieren. Neue Regelwerke werden – ganz und gar zutreffend - zudem als eine Gefährdung eingespielter Hierarchien taxiert. Aber ausgehend von einer Subkultur kann ein neues Musikverständnis Fuß fassen.

 

Zusammen heißt dies, dass es aktuell und lokal immer intuitiv erfassbare Regeln der Musik gibt. Damit gibt es in jedem Augenblick an jedem Ort in der Musik die Idee des Schönen. Diese stellt aber die Freiheit der Musiker und der Zuhörer nicht in Frage, da sich die Musik durch den Dialog von Hörern und Machern, und den Austausch über Stilgrenzen hinweg ständig entwickelt.

 

In der bildenden Kunst gab es eine Zeit lang die Debatte, ob die Abwesenheit ästhetischer Maßstäbe die Kunstwerke zu Anlageobjekten degradiere. Hier steht dass Objekt noch ganz im Mittelpunkt der ökonomischen Beziehungen. Ein Künstler produziert ein Werk, dass er an einen Käufer veräußert. Dieser Käufer muss aber nicht notwendigerweise am ästhetischen Wert des Werks interessiert sein. Unbelastet von eigenen Geschmacksurteilen kann er das Werk als Anlageobjekt veranschlagen. So kann geradezu eine Avantgarde entstehen, denen die Neuartigkeit als Alleinstellungsmerkmal des Anlageobjekts über dessen ästhetische Einschätzung geht. Damit übertreffen sie die Dadaisten an dekonstruktiver Potenz.

 

Die bildenden Künstlerinnen und Künstler, die aktuelle ästhetische Kategorien in ihren Werken ausformulieren, sich an ihnen abarbeiten und neue formulieren wollen aber einfach nicht aussterben! Für sie gilt Ähnliches wie für die Musiker schon ausgeführt. Auch hier gibt es Kategorien und Mittel, die seltsam exakt anmuten: Symmetrie, goldener Schnitt, Fluchtpunktperspektive zum Beispiel. Der Fundus solcher gestalterischen Mittel ist groß und er kann selbstredend fortgeschrieben werden, so dass wieder Verlässlichkeit und Freiheit harmonieren.

 

Als letztes Beispiel unter den unzähligen Künsten wende ich mich dem Erzählen zu. Es ist geradezu unsere alltäglichste Kunstform: Wir lesen kurze und lange Erzählungen und natürlich schauen wir sie. Die große Masse der Erzählungen erschöpft sich im Anspruch der Unterhaltung. Damit gelten zu ihrer Gestaltung psychohygienische Maßstäbe: Vertraute Themen und Formen entspannen den Leser. Die Darstellung von Sex erregt. Gewaltdarstellung, insbesondere exzessive sollen über entsprechende Hormonausschüttungen das Bindegewebe straffen. Dies alles ist ganz unbedenklich, insoweit wir diese Funktionen entsprechender Erzählungen ironisch reflektieren können. Wir halten aber häufig die Realität dieser Erzählungen für die Welt da draußen, die sich der subjektiven Empirie aus Berufs- und Privatleben entzieht, und uns genauso ängstigt, wie die Monster unterm Bett. Wer diese Ängste nicht teilt, wird oft als naiv belächelt. Warum weiß er nicht, dass die Welt schlimmer geworden ist und schlimmer werden wird?

 

Wir erzählen uns aber auch Geschichten, um uns mit Symbolen auszustatten, die unser Gespräch über die Gestaltung der Welt erleichtern sollen. Diese müssen sich der Kritik stellen, welche Entwürfe sie ermöglichen. Wir reflektieren in Erzählungen unsere Vergangenheit, sowohl zur Selbstvergewisserung als auch zur moralischen Aufarbeitung. Und schließlich erzählen wir uns von der Zukunft, als wäre sie eine solche Vergangenheit. All dies kann nur geschehen, indem ein Repertoire erzählerischer und sprachlicher Mittel genutzt und erweitert wird. Dies schließt sich mit den psychohygienischen Funktionen des Erzählens nicht aus. Ein wenig Erregung fördert das Hören. Und straffes Bindegewebe ist ja nichts Schlechtes.

 

Die Erzählstrukturen sind ziemlich träge kulturelle Errungenschaften. Und sie sind nicht wertfrei. Es macht einen Unterschied, ob die allgemeinverbindliche Erzählung einer Gemeinschaft Gott mit dem Herrscher identifiziert oder ob das erste Gebot lautet: Ich wurde dir zum Gott, indem ich dich aus dem Sklavenhaus befreite. Ein naiver Moralist, der diese Wendung des Erzählens begriffen hat, wird die zurückliegende Erzählweise als Missklang empfinden oder ironisch goutieren. Wir können diese Neuerung kaum unterschreiten. Die Frage ist fortan, wie und ob wir sie überschreiten können.

 

Nun müsste ich noch für alle anderen Künste einen Absatz anfügen. Bestimmt wäre interessant, die Kochkunst auf Freiheitsgrade und Entwicklungsfähigkeit abzuklopfen. Auch die Mathematik könnte man als Kunst der Syllogismen beschreiben. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich muss mich jetzt einen Abschnitt weiter begeben. Das Wahre harrt der Behandlung. Wir haben Epochen hinter uns gelassen, in denen steile Hierarchien mit dem Verweis auf transzendente Gewissheiten definierten, was wahr, ja, was die Wahrheit sei. Diese Hierarchien lösten die moralischen Ansprüche ausgerechnet des Offenbarungstextes, der ihre Definitionsgewalt begründen sollte, nicht ein. Aber auch ohne diesen peinlichen Widerspruch müssen sich Glaubensgemeinschaften irgendwann der Tatsache stellen, dass sowohl das Faktenwissen als auch die gesellschaftliche Moral über die Festlegung der Offenbarung hinausgeht, ohne dass diese dem etwas Prinzipielles entgegensetzen kann.  Damit erschien der Wahrheitsbegriff als solcher in Zweifel gezogen und dieser grundsätzliche Skeptizismus wird seit dem immer wieder in Stellung gebracht, wenn Wahrheitsansprüche relativiert werden sollen, was durchaus ganz irdische Motive haben kann.

 

Diesem emanzipativen Skeptizismus zum Trotz, entscheiden wir in allen möglichen Zusammenhängen über wahr oder unwahr. Auf der einen Seite scheint Wahrheit ganz pragmatisch das Wissen zu meinen, was eine Gemeinschaft ihren Entscheidungen als verlässlichen Bezugspunkt zugrunde legt. Dies erscheint ganz und gar konventionalistisch. Wahr ist, was ein verlässliches Gespräch ermöglicht. Wir haben aber durchaus dezidierte Vorstellungen darüber, was gute Garanten eines verlässlichen Diskurses wären. So identifiziert die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston vier epistemische Tugenden: Gewissheit, Wahrheit, Präzision und Objektivität. Die Gewissheit als die Herleitbarkeit aus unhintergehbaren Grundannahmen, die Wahrheit als Entsprechung von Erfahrung und Idee, die Präzision als genaue Abbildung und die Objektivität als Unabhängigkeit der Darstellung von subjektiver Projektion. Es geht in der Wissenschaft darum, diese Tugenden miteinander auszusöhnen, was nicht abschließend möglich ist. Verschiedene Epochen verschieben auch die Präferenz zwischen den Tugenden. Bei der epistemischen Tugend der Wahrheit gibt Daston ein interessantes Beispiel. Ein Botaniker könnte sagen, die Blätter dieser Baumart seien symmetrisch. Seine Daten über die Blätter werden also in Beziehung gesetzt zur Idee der Symmetrie. Diese kennen wir aber aus der bildenden Kunst. Beschreiben Wissenschaftler zeitliche Zyklen, greifen sie unwillkürlich auf Ideen zurück, die wir auch aus der Musik kennen. Dass sie in der Mathematik reich fündig würden, ist ein Allgemeinplatz. Wahrheit als eine der epistemischen Tugenden hat also eine ästhetische Seite. Es ist durchaus fraglich, ob die Definitionsgewalt des Klerus eher durch emanzipatorische Bewegungen zurückgedrängt wurde oder sich durch das Angebot der Wissenschaft erübrigte. Die Wahrheit als epistemische Tugend hat meiner Ansicht nach einen besonderen Status, weil nur sie Aussagen formulieren kann, die in anderen Diskursen zitierbar werden. Die Gewissheit fordert den Anschluss an verlässliche Wissensbestände, die Präzision die Differenziertheit der Erfahrung, die Objektivität eine interpretatorische Redlichkeit. Aber erst die ausformulierte Wahrheit, die Verbindung der Erfahrung mit der Idee, ist es wert, aus den Kämmerlein der Wissenschaftler hinausgereicht zu werden. Die Vielfalt wissenschaftlich begründeter Wahrheiten bildet den Fundus verlässlichen Wissens, auf das sich gesellschaftliche Diskurse beziehen lassen.

 

Nun gibt es tatsächlich keine wissenschaftliche Wahrheit, die nicht morgen revidiert werden könnte. Sagen wir heute, Ahornblätter seien symmetrisch, entdecken wir mit Sicherheit morgen relevante Abweichungen von dieser Aussage. Die Tugend der Präzision wird uns diesen Eklat bescheren. Bewältigt ist er, wenn wir die Abweichung von der Symmetrie in Beziehung zu anderen Ideen setzen, also ergänzende Wahrheiten formulieren. Es kann uns sogar passieren, dass die Aussage ganz und gar nicht wahr ist, dass die Form von Ahornblättern mit der Idee der Symmetrie nicht im Entferntesten in Beziehung steht. Und auch dann fordern wir der Wissenschaft ab, eine neue Idee zu suchen, mit der die Erfahrungen mit Ahornblättern in Beziehung gesetzt werden kann. Insgesamt wird der Fundus verlässlichen Wissens, auf das sich die Institutionen unserer Gesellschaften beziehen, von seiner ständigen Revision nicht beschädigt. Im Gegenteil gründet die globale Verlässlichkeit wissenschaftlicher Wahrheit auf der ständigen Revision von Wahrheiten. Verlässt sich dagegen eine Gesellschaft auf religiöse Wahrheiten, scheint es riskant eine einzige davon zu revidieren, womit es ratsam scheint, Kritiker zu liquidieren. Umgeht jemand diese Hürde, bringt er das System religiöser Gewissheiten leicht zum Einsturz. Der Unterschied scheint mir dem ähnlich, den Machiavelli zwischen den deutschen Landen und dem türkischen Sultanat diagnostizierte: Jedes deutsche Fürstentum ist leicht zu besiegen. Der Eroberer hat aber kaum Gebiet gewonnen und sieht sich nur dem nächsten Fürsten gegenüber. Die osmanische Armee zu besiegen erscheint eigentlich unmöglich. Schaffte jemand dies doch, fiele ihm das ganze osmanische Reich ohne weitere Gegenwehr in den Schoß. Der meisterhafte Diagnostiker der Macht vergaß an der Stelle aber zu analysieren, was geschehen würde, wenn die deutschen Lande eben nicht von einer Großmacht, sondern von unzähligen Grüppchen, aus allen Richtungen, von außen und innen mit je subjektiver Motivation angegriffen würden. Dieses Szenario mahnt an den dreißigjährigen Krieg.

 

Nun verlassen sich die meisten von uns ganz gerne auf die Wissenschaft, weil diese der Technik ermöglicht nette Dinge zu konstruieren. Wir sind damit aber noch keine Freunde wissenschaftlichen Wahrheitsstrebens, sondern z.B. nur begeisterte Handynutzer. Gründete allein darin die Zustimmung zum besonderen Status der Wissenschaft, müsste man sie als Korruptionsfall zurückweisen. Hier fehlt noch eine Kategorie der Reflexion.

 

Ich brauche noch den Begriff des Guten, um ermessen zu können, wozu verlässliches Wissen, umgangssprachlich Wahrheit, notwendig ist. Wem umgangssprachlich Wahrheit etwas bedeutet, findet in Wissensbeständen die der epistemischen Tugend Wahrheit genügen, eine verlässliche Grundlage. Ich kann nicht auf die Schnelle die Letztbegründbarkeit moralischer Urteile überreißen oder ähnliche Salti vollbringen. Mir reichen zwei recht triviale Annahmen. Eine Anzahl von Menschen wird zu einer Gemeinschaft, indem ihre auf die Anderen bezogenen Handlungen bestimmten moralischen Ansprüchen genügen. Diese Auffassung von Gemeinschaft geht über die einer geteilten Eigenschaft hinaus, verträgt sich aber besser mit unserer alltäglichen Intuition. Oft wird gesagt, eine geteilte Eigenschaft definiere eine Gemeinschaft oder moderner Community. Nun ist aber vorstellbar, dass eine Gruppe mit geteilter Eigenschaft ein essentielles Projekt betreibt. Z.B. könnten eine Handvoll blonder Studienräte einen Rettungskahn steuern. Vielleicht ist ihre Kooperation so unterirdisch schlecht, dass sie den Kahn ohne äußere Not versenken. Gefragt, woran sie gescheitert seien, könnte jemand antworten: „Sie haben keine Gemeinschaft gebildet!“

 

Diese Antwort trifft ins Schwarze, obwohl die Ertrunkenen sich einen ganzen Sack voll Eigenschaften teilten. Es wäre wohl besser gelaufen, wenn jeder von Ihnen seinem Handeln eine auf die Kooperation bezogene Moral zugrunde gelegt  hätte. Dabei wäre nicht einmal notwendig gewesen, dass diese Moralvorstellungen miteinander deckungsgleich gewesen wären. Dies und jenes hätte man noch unter Wind aushandeln können.

 

In anderen alltäglichen Situationen weisen wir unser Gegenüber darauf hin, dass es einem Dritten gegenüber diese oder jene Verpflichtung habe. Es gibt offenbar Menschen, die zu unserer Gemeinschaft gezählt werden müssen, auch wenn wir sie nicht oder bislang nicht dazugerechnet haben. In einer Epoche weltumspannender Lieferketten ist dies ein nicht immer trivialer Punkt. In der Arbeitsteilung modernen Wirtschaftens sind wir aufeinander angewiesen, womit wir für unsere die Partner unseres Wirtschaftens und die durch seine Folgen betroffenen verantwortlich sind.

 

Naturgemäß hätten die blonden Studienräte sich die Steuerung des Kahns sehr erleichtert, wenn sie sich auf einen Commonsense , eine Schnittmenge ihrer Moralvorstellungen hätten beziehen können. Eine solche Konvention konstruiert keine Moral, erleichtert aber ihre Anwendung. Nun könnte einer von ihnen seine Moralvorstellungen durchsetzen. Warum es aber unbedingt seine sein sollten, kann er nicht begründen. Wenn er dies doch täte, eröffnete er eine Verhandlung über die Gültigkeit der verschiedenen moralischen Sätze. Diese wird aber nur notwendig, insofern sich die eingebrachten Sätze widersprechen. Ansprüche könnten zum Beispiel aus unterschiedlichen Bedürfnissen folgen. Der Gesprächsbedarf folgt in jedem Fall aus der Diversität der Kooperationspartner, nicht aus ihrer Identität. Was die Verhandlungspartner benötigen sind gemeinsame Kriterien, mit denen sie zwischen widerstreitenden Positionen entscheiden können bzw. den Widerstreit in einer Synthese aufheben können. Dafür müssen sie sich gegenseitig als kompetente Verhandlungspartner anerkennen. Ist jemandem das ewige Debattieren zu lang, so dass er die Abkürzung in der Herrschaft über die anderen sucht, können diese auf die gleiche Idee kommen. Bald kann den Gockeln schon wesentlich rationaler erscheinen, den zur sinnvollen Unterordnung Unfähigen den Scheitel mit dem  Paddel zu ziehen. Die Debatte über den Weg zu einer gemeinsamen Moral scheint sich nicht mit Herrschaftsansprüchen zu vertragen. Die Teilnehmer sollten in diesem Sinne frei sein.

 

Nun sind die Insassen des Kahns gar nicht so gleich, wie ich sie eingeführt habe. Ich hätte ebenso gut ein Strauß an Eigenheiten und Unterschieden darstellen können. Wesentlich ist, dass eben diese Unterschiede der Inhalt des moralischen Diskurses sind. Damit erfordert dieser Diskurs aber, dass jeder Teilnehmer, um mit den anderen zu reden, sie in ihrer wesentlichen Unterschiedlichkeit imaginiert. Und dieses Bild des Anderen  muss jeder zur Debatte stellen. Wenn ich mit den Anderen sprechen will, muss ich über sie sprechen. Dies muss ich gerade dort, wo ich mit dem anderen als Fremden kooperieren will. Wo er mit mir identisch ist, erübrigt sich die ganze Debatte. Wo ich ihn beherrschen will, gehen seine Eigenheiten nur in mein strategisches  Kalkül ein, das ich aus taktischen Gründen nicht veröffentlichen sollte. Nebenbei: Gemeinschaftsbildung ist grundsätzlich eine gute Strategie.

 

Gehe ich das Wagnis der Gemeinschaft ein, stelle ich mich dem Anspruch der Kooperation, und damit dem Anspruch der Fürsorge. Diese meint aber den konkreten Anderen mit seinen verschiedenen Bedürfnissen. Der Mensch braucht Luft zum Atmen, weswegen der Kahn nicht untergehen sollte. Menschen brauchen Nahrung, wobei sie einen unterschiedlichen Geschmack haben können. Sie befinden sich in unterschiedlichsten Lebenslagen und bringen verschiedenste Erfahrungen mit. Wenn meine Fürsorge dem konkreten Anderen gerecht werden soll, brauche ich ganz empirisches Wissen, eben Wahrheiten mit Bezug auf den konkreten Anderen, und Kompetenzen zur Umsetzung der Fürsorglichkeit. Will ich auch den Fernsten lieben, kann ich dies nicht aus einem direkten Abstimmungsprozess seiner Bedürfnisse tun. Ich brauche vielmehr verlässliches Wissen über ihn, seine Verhältnisse und die für die Fürsorge notwendigen Ressourcen. Ich muss mich dem Wissen über unsere gemeinsame Geschichte stellen. Dies alles finde ich in einer Auswahl wissenschaftlicher Wahrheiten, die sich an den Zwecken der Fürsorge und Kooperation messen lassen muss. Der Andere muss das Gleiche von seiner aktuellen und lokalen Identität aus tun, die sich - wie auch meine – aus einer Reihe von Zufällen ergibt. Wesentlicher ist das Ziel: Es gilt, Institutionen – ob nun Firma oder Behörde - zu erschaffen und zu pflegen, in denen diese achtsame Interaktion gut aufgehoben ist. Jede Technik muss solche Institutionen für ihr alltägliches Handeln ausstatten.

 

Nachdem das Schöne, Wahre und Gute als abgeleitete und verordnete Kategorien abgetreten sind, hat sich ein ironischer Diskurs über sie erhalten, in dem wir immer noch so tun, als wäre ihre radikale Dekonstruktion alternativlos. Eine Praxis, die sich auf Modelle bezüglich dieser Kategorien stützt, diese fortschreibt und dazu die eine aus mit Elementen der anderen ausrüstet, beweist ganz profan das Gegenteil. So müsste sich ein Freund der Aufklärung in Sicherheit wiegen, da sich deren Werte in Alltagspraxis übersetzt haben. Die Bezugnahme auf wissenschaftlich belegte Aussagen und das rationale Argument erscheinen immer noch als das Optimum in der Kommunikation zwischen den Fremden.

 

 Beim  Jugendlexikon meiner Frau ist ein Band mit Von Geist bis Info betitelt. Diesen alphabetischen Zufall halte ich für prophetisch. Das Informationszeitalter zeichnet sich dadurch aus, dass einige Großkonzerne unsere Sehnsucht uns gegenseitig zu informieren zu unserer Ausbeutung nutzen. Daher kann jede und jeder Informationen hochladen, die ohne jede epistemische Tugend verfertigt wurden und allzu oft schlicht unwahr wenn nicht zielgerichtet gelogen sind. Sie erwerben sich aber ganz unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt den Status verlässlichen Wissens für eben die Blase die sie selbst erzeugen. Ein sogenannter Querdenker ist eben kein origineller Teilnehmer eines allgemeinen Diskurses mehr, sondern ein Mitglied einer global vernetzten, sich abschottenden und ihre Lügen festschreibenden Community. In Gesellschaften mit einer robusten Zivilgesellschaft sind solche querdenkenden Blasen eine nur sporadisch wirksame Randerscheinung. Da, wo ökonomische Ungleichheit die Zivilgesellschaft schwächt, gewinnen sie gefährlich an Raum.

 

Die Querdenker in der Coronakrise sind aber keine historische Kuriosität. Die Neigung der technischen Mittel der sozialen Netzwerke zur Blasenbildung synergieren hier mit dem Siegeszug des Identitätsbegriff als Label politischer Strategien. Der Identitätsbegriff ist in seiner politischen Verwendung antiaufklärerisch und die längste Zeit DNA der Rechten. Linke Identitätspolitik stellt nach meinem Verständnis ein Oxymoron dar. Die Methoden zur gesellschaftlichen Dominanz der Rechten wurden schlicht umetikettiert: Cancel Culture, Deplatforming, kulturelle Aneignung sind Begriffe in Strategien die so auch von Rechten seit jeher betrieben werden.  Zusammengenommen erteilen sie der Kommunikation unter Fremden mit dem dazu notwendigen Gespräch über den Fremden eine Absage. Übrig bleiben Logiken des Kampfes, allzu oft mit den Waffen der sozialen Medien. Die Flut der Informationen, die von dieser oder jener Blase als verlässliches Wissen genommen werden, ist so groß, dass niemand sie mit der Achtsamkeit epistemischer Tugenden revidieren kann. Die Produzenten setzen sie eh im Kampf ein, womit sie an der Revision nicht interessiert sind.

 

Ein weiteres Problem für einen aufgeklärten politischen Diskurs ist, dass zu vielen Themen – Klimawandel, soziale Ungleichheit, Epidemiologie – wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die in ihrer Klarheit die moralische Integrität politischer Eliten herausfordern. Aber selbst in den Demokratien rund um den Globus paktieren diese mit den ökonomischen Eliten in den Verzögerungstaktiken gegenüber notwendigen Reformen. Nimmt man die genannten Themen zusammen, scheint das geradezu ihr Kerngeschäft. Damit weisen Politiker epistemisch sorgfältig arbeitenden Wissenschaftlern den gleichen Einfluss zu, wie sich Querdenker aller Couleur ihn sich ohne diesen Aufwand erwerben können.

 

In Europa konnte der dreißigjährige Krieg beendet werden, indem die Staaten sich - auch militärisch – neu strukturiert haben. Diese ersten Maßnahmen lösten eine Folge von Entwicklungen aus, die nach blutigen Wechselfällen eine Demokratisierung der beteiligten Länder ermöglichte. Wenn man die Wahl Trumps, den Brexit, den Völkermord an den Rohingya und viele andere Phänomene betrachtet, scheint dem Informationszeitalter eine ähnliche Tendenz wie dem dreißigjährigen Krieg innezuwohnen: Sich willkürlich formierende Akteure ziehen mit die Wahrheit geringschätzenden Informationsstrategien in diese und jene politische Auseinandersetzung. Und bevor der Wahrheitsgehalt ihrer Informationssplitter überprüft und bekannt gemacht werden kann, haben sie schon ihre Wirkung entfaltet. Ein Land verlässt einen Wirtschaftsraum, bevor die betrügerische Natur der betriebenen Kampagne zutage tritt. Ein Völkermord schreibt sich in einer Schleife  gegenseitiger Erregung fort. Große Bevölkerungsanteile der ältesten Demokratie, halten wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse für Propaganda. Pressure Groups betreiben medialen Kampf für die je intern ausgerufene gute Sache. Und die zuschauenden Diktatoren und Autokraten halten zunehmend Demokratie für ein schwaches und mit instrumentalisierter  Information angreifbares Gesellschaftsmodell. Setzt sich diese Tendenz durch, zerfällt die Welt in sich nur ihrer Identität bewussten Kampfverbänden, die Souveränität nur auf Kosten des Feindes kennen und individuelle Freiheit der Loyalität im Kampf unterordnen.

 

Jede und jeder, den diese Perspektive gruselt, muss nach Mitteln suchen, wie das Projekt Aufklärung – losgelöst vom europäischen Besitzanspruch am solchen – dazu ausgerüstet werden kann, um  den informativen Söldnerkrieg zu unterbinden. Die Technikkonzerne des Informationszeitalters müssen darin kooperieren oder ihre eigene Kastration akzeptieren. Erst wenn so oder so eine Befriedung gelingt, kann das Informationszeitalter stetig positive gesellschaftliche Entwicklungen ermöglichen. In der Praxis dieser Entwicklung werden ihre diversen Akteure ihre Schritte wohl wieder am Schönen, Wahren und Guten messen – auch wenn ihr Verständnis der drei in dieser Bewegung ständig selbst überarbeitet wird.