Vor ein paar Tagen lobte ein Radiomoderator einen Film, indem er ihm konstatierte über die Frage nachzudenken, die uns alle umtriebe: Die nach der Identität. Vielleicht liegt es ja an meinem Status komfortablen Unmarkiertseins, dass ich über die eine Frage erstaunlich selten nachdenke. Tatsächlich hat der Begriff der Identität einen Siegeszug angetreten über die Grenzen politischer Lager, Races oder Kulturkreise hinweg. Eben weil ihn sowohl die Identitären als auch Aktivisten marginalisierter Gruppen nutzen, frage ich mich, inwieweit der Begriff für einen emanzipatorischen Diskurs taugt.
Nach kleiner Recherche scheint mir, die Nutzer des Begriffs sollten von einer Überprüfung seiner Herkunft tunlichst absehen. Einerseits scheint er von jeher ein Allerweltswort zu sein, das von der Mathematik bis zur Jurisprudenz Verwendung findet und fand. In der Romantik scheidet sich aber eine kulturelle bzw. politische Verwendung des Begriffes ab. Dezidiert gegenaufklärerisch ordnen z.B. Herder oder de Maistre den Einzelnen dem Volk unter, dem sie eine eigene von seinen Mitgliedern unabhängig existierende Seele zuschreiben. Damit gibt es etwas, das größer ist als die Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen, so dass dieser aus der Verantwortung für sein Selbstbild entlassen zu sein scheint. Auch intuitiv als unmoralisch erkennbares Handeln kann so durch die angeblichen Interessen dieses fiktiven Wesens Volk rechtfertigt werden. Wie weit diese Rechtfertigung reichen kann, zeigt gerade die deutsche Geschichte. Dies könnte aber auch auf einer besonders aggressiven Fehlinterpretation des Begriffes beruhen. Vielleicht unterscheidet sich ja die Annahme der Identität von Communities grundlegend vom völkischen Gedanken.
Ich sehe eine Art Tauschhandel zwischen dem mit eigenem Lebensgeist ausgestatteten Kollektiv und seinen Gläubigen: Ich ordne mich den Institutionen dieses Kollektivs unter, dafür immunisiert es mich gegenüber moralischen Ansprüchen Fremder. In der Diskussion über Zwangsheirat, Einstellung zu Homosexualität, Gewalt gegenüber Kindern und vielen anderen Themen mehr wird mir oft dieses So-ist-das-halt-bei-uns entgegengehalten. Die Mehrheitsgesellschaft oder ich als ihr Vertreter habe nicht das Recht, sich in die internen Angelegenheiten der je eigenen Community einzumischen. In einer pluralistischen Gesellschaft kann sich aber ungefähr jede und jeder als Vertreter einer Minderheit auffassen und findet Anschluss an die entsprechende Community, was wohl zum Erfolg des Identitätskonzepts beiträgt.
Diesem Tausch geht eine Art multikultureller Lehnsschwur voraus. Damit diese oder jene Community mich gegen die moralischen Ansprüche aus übergreifenden Diskursen immunisiert, muss ich mich ihr exklusiv verschreiben: Ich muss bekennen, dass die diese Gemeinschaft definierenden Eigenschaften in meinem Selbstbild eine hervorragende Rolle spielen. Definierte ich meine Gemeinschaft z.B. nationalistisch, würde ich sagen, dass ich vor allem Deutscher sei und alle Bestimmungen nach anderen Kategorien weniger bedeutsam und dieser untergeordnet seien. Das Zeitalter der digitalen Medien zeigt aber, dass dieses Lehnsverhältnis nicht nur nationalistisch formulierbar ist. Man kann es auch anhand Hautfarbe, geschlechtlicher Orientierung, politischer Lagerbildung und vielem anderen mehr inszenieren.
Nun bezweifle ich gar nicht die Anwendbarkeit des Identitätsbegriffes. Selbstredend kann man z.B. mich anhand ganz allgemein verfügbarer Kategorien so beschreiben, dass ich als Individuum identifizierbar bin. Ich sehe allerdings in dieser Identität nur ein Zwischenergebnis biografischer und historischer Prozesse. Damit schließe ich mich der Sicht Herbert Meads an, dass die eigene Identität im social act ständig überarbeitet werde. Demnach handele ich borniert, wenn ich meine aktuelle Identität zum Bollwerk gegen die Argumente Fremder mache, anstatt sie im social act zur Disposition zu stellen. Communities stellen allzu oft solche bornierten Bündnissysteme dar. Z.B. scheinen Offenbarungstexte gegenüber moralischer Kritik vonseiten Ungläubiger sakrosankt.
Nun sind Gemeinschaften nicht notwendig aus freien Willensakten zusammengetretene Vereinigungen. Oft sind es aus der Not der Ausgrenzung geborene taktische Akteure. Die Emanzipation jedes Mitglieds einer solchen Gruppe geschieht vorerst über die Emanzipation der Gemeinschaft als ganzer. In dieser Bewegung müssen aber Werte formuliert werden, die in der übergreifenden Gesellschaft Gültigkeit erlangen, wenn die Erfolge nachhaltig sein sollen. Die großen Emanzipationsbewegungen des vorigen Jahrhunderts haben vor allem das angestrebt. Mit der allgemeinen Akzeptanz der formulierten Werte wird die Ausgrenzung unwirksam. Damit erübrigt sich allerdings auch der Zusammenhalt der vordem ausgegrenzten Gruppe.
Die aktuelle Identität und die in ihr gemachten Erfahrungen können insbesondere in Krise und Konflikt Motor der Emanzipation sein. Ziel der Emanzipation sind allerdings allgemeinverbindliche Normen, durch die die eigene Unterdrückung und die der eigenen Gemeinschaften aufgehoben werden. Solch ein Normsystem ist nicht nur ein Fortschritt für die sich emanzipierende Gruppe, sondern auch für die sie übergreifende Gesellschaft, deren Freiheitsgrade ausgeweitet werden, indem die die Ausgegrenzten kennzeichnenden Merkmale als Stigma entwertet werden. Wohlverstanden befreit also die Emanzipation sogar den Unterdrücker.
In einer Welt, deren wirtschaftliche Realität durch wachsende Ungleichheit geprägt ist, gibt es allerdings einen Bedarf an Stigmata, anhand derer die Bevorteilten unbefangen darlegen können, warum das Prekariat abgehangen wurde. Die Armut der sogenannten dritten Welt kann dann z.B. rassistisch oder kulturalistisch begründet werden. An dieser Notwendigkeit ändert die Identitätspolitik der verschiedensten Communities überhaupt nichts. Vielmehr entsteht eine Landschaft von einander isolierter Gemeinschaften, deren Partikularinteressen von den wirtschaftlichen Eliten instrumentalisiert werden können, um anhand der Agenda der Deregulierung die bestehende Herrschaftsstruktur gegen allgemeine moralische Ansprüche zu immunisieren. Dies ist die wesentliche Taktik der Populisten, die sich wegen jeder Community, die sich politisch auf die eigene Identität konzentriert, die Hände reiben. Ergebnisse waren bislang unter anderem Brexit und Trump.
Die wesentliche Frage ist also nicht, welche Identität ich oder du haben. Dass wir eine haben, ist tatsächlich keine besonders umwerfende Erkenntnis. Die wesentliche Frage ist, inwieweit wir fähig sind unsere Identität durch die Begegnung mit dem Fremden so weit in Frage zu stellen, dass wir neue für beide Seiten gültige Normen formulieren, neue, für beide zuträgliche Institutionen organisieren können. Wichtiger als die Frage der Identität ist also die jeweils aktuelle moralische Frage: Was sollen wir tun? Dabei bezeichnet wir zwei Fremde, unter Umständen Gegner, die sich gemeinsam auf die Suche begeben. Sie machen die ersten Schritte natürlich als die, die sie aktuell sind. Ihre Identitäten samt ihren Gegensätzen sind die Hypothek ihres Vorhabens.
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