Lieber Gevatter Tod,
ich will ehrlich mit dir sein: Wir mögen dich nicht. Die Abneigung gegen dich stiftet eine unübersehbare Gemeinschaft. Und so wirken Exzentriker, die ihre Dividenden als Kopfgeld auf dich aussetzen, wie Pioniere dieser größtmöglichen aller Gemeinden. Ich kenne von ihr tatsächlich nur einen unerheblichen Bruchteil persönlich. Wenn aber eine Unbekannte, ein Fremder in meinem Blickfeld bedrohlich stolpert, streckt sich meine Sorge schneller als meine Hand: „Obacht!“ warne ich sie oder ihn -zugegebenermaßen vor dir. Ich erkenne in allen Gefährdeten Spießgesellen gegen dich und lag bislang immer richtig damit.
Indem wir dich personifizieren, erzwingen wir eine Anklage gegen dich, den ultimativen Gegner aller Menschenrechte. Das rechtsstaatliche Verfahren schenken wir uns und gehen gleich zur Ausführung des vorgefassten Urteils: Tot dem Tode! Holen wir uns die Unsterblichkeit!
Ich bin wahrlich kein Jurist, aber es bräuchte doch wohl auch einen Anwalt des Beklagten, der Motive, mildernde Umstände und die Schwere der Tat aus dessen Perspektive einordnen würde. Ein solcher Rechtsanwalt begibt sich mit der Verteidigung eines Volksfeinds, was sag ich, des Feindes der Menschheit in eine schwierige Lage. Er wird schnell als Freund des Beklagten etikettiert. Einen solchen Mut bring ich für dich, lieber Gevatter, nicht auf. Im Falle eines fairen Verfahrens gegen dich würd ich dem Rechtsanwalt wohl ein Briefchen in die Tasche gleiten lassen - in der Hoffnung es hülfe bei der Urteilsfindung, ohne dass ich in Erscheinung treten müsste. Ich mag dich wie gesagt nicht. Ich find zum Beispiel den Klapperstorch viel anheimelnder. Ich liebe das quirlige Geschrei der spielenden Kinder. Ich bin stolz, wenn ich den meinigen eine leckere Suppe koche und denen der Nachbarn das ABC beibringen darf.
Ich mag es, wenn wechselnde Konstellationen mich herausfordern, weil das Personal wechselt. Das geht wohl auch durch Migration. Aber jemandem zu begegnen, die oder der Ähnliches erlebt, wie ich bereits erlebt habe, ist etwas besonderes, gerade wenn die Welt, in der sie oder er es erlebt, sich von meiner vergangenen unterscheidet. Ich könnte die Liste dessen, was durch die Geburt neuer Menschen seinen Sinn und Zweck erhält, noch endlos verlängern. Hat der Mensch, die Menschheit gar Unsterblichkeit erlangt, bedroht jede Geburt uns mit Überbevölkerung. Jeder neuer Erdenbürger vergrößerte dann den Nenner unter dem Zähler aller Ressourcen. Davor hast du uns, lieber Gevatter, bislang bewahrt.
Nur indem ungefähr so viele von uns sterben, wie auch geboren werden, können wir über grüne Wiesen oder an weiten Stränden entlang tollen. Ein Dichter aus den verwunschenen Wäldern des Ostens sagte einmal, diese hätten ihn gelehrt, sich auf die Begegnung mit dem Menschen zu freuen. Ohne dich, lieber Gevatter, hätte, schon bevor er das erste Gedicht ersonnen, hinter jedem Baum ein Mensch gestanden. Ich als Großstädter liebe ja - von Urlaubszeiten abgesehen - das blühende Leben in meinen Straßen. Ich genieße aber die Freiheit, es zeitweise jenem Dichter gleichzutun. Ohne dich, lieber Gevatter, würde jene Liebe zur Geselligkeit zur Zwangsehe - Urlaubszeiten eingeschlossen!
Würde ich davon ausgehen, dass meinem Alter keine Grenzen gesetzt wären, dass also höchstens Unfälle mein irdisches Dasein beenden könnten, gäbe es keine rationalen Abwägungen von Risiken mehr. Als Kind habe ich gehört, dass ein Bekannter meiner Eltern beim Wellenbaden an der Atlantikküste ums Leben kam. In den Wellen herumzutoben blieb allerdings ein Spaß für unsere ganze Familie. Eine prinzipiell begrenzte Lebensspanne lässt das der Gaudi vorausgesetzte Risiko abwägbar erscheinen. Bei ewiger Jugend wäre zum Beispiel schon das Verzehren einer Maischolle eine vernunftswidrige Kühnheit. Zwei Stufen auf einmal nehmen eine Risikosportart, eine zur Zeit ein zu flankierendes Projekt.
Die eigenen Erfahrungen werden nur zum Preis solcher Kühnheiten ermöglicht. Besorgte Unsterbliche müssten den Jüngsten von jeder eigenen Erfahrung zugunsten ewig überprüfter Sicherheitsmaßnahmen abraten. Damit würden erst die Jüngeren und damit bald alle, die den immer selteneren Unfällen entgehen, freiwillig aber eben auch absolut unfrei. Ihr Leben in Ewigkeit die Erfüllung des Sicherheitsprotokolls. Um dieses zu überprüfen oder fortzuentwickeln könnten sie die weniger beliebten unter ihnen zu riskantem Verhalten anstacheln und eben nicht „Obacht!“ rufen. Aus sicherem Abstand würden Sie dann ihre Statistiken fortschreiben.
Wenn nun ein Individuum auf die Idee käme, das Leben seiner Gemeinschaft durch Nachwuchs zu bereichern, täte es gut daran, fern seiner Gemeinde platzschaffend zu morden. Die Kinder sollen ja Platz zum Herumtollen haben. Die alte Solidarität gegen dich, lieber Gevatter, wäre damit so weit infrage gestellt, dass ich als vernünftiger Unsterblicher in jedem Fremden einen solchen fürsorglichen Mörder vermuten sollte. Meine Vorsicht sollte mich bis auf überprüfte Ausnahmen zum Menschenfeind machen. Da aber in einer Welt des Marktes einer unsterblicher sein wird als der andere, werden Achtsamkeit und Verachtung sich am Gefälle der Vermögen orientieren. Ach was, sie tun es schon!
Die Menschenliebe ist wohl die zur Gewohnheit und dann zum Wesenszug aufgetürmte Sorge um diesen oder jenen konkreten Menschen. In dieser Liebe fühlen wir uns trotz aller Schieflage aufgehoben. Niccolò Machiavelli hielt die Furcht für verlässlicher als die Liebe. Vielleicht ist aber die Liebe ein Kind der Sorge der Menschen um ihre Gefährtinnen und Gefährten. Damit wär sie Enkelin der Furcht, dass du, lieber Gevatter, meine Nächste, meinen Nächsten fordern könntest.
Ich hasse dich, da ich die Einsamkeit fürchte. Ich fürchte sie, da ich mich in der Sorge der anderen um mich aufgehoben weiß. Sie fürchten um mich und ich um sie. Als Unsterblicher hätte ich von dieser Gemeinschaft keinen Begriff. Ich kann dein Anwalt nicht sein. Aber eine Welt ohne dich kann ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls keine, in der ich es wert fände, zu leben.
Diese Webseite wurde mit Jimdo erstellt! Jetzt kostenlos registrieren auf https://de.jimdo.com