Irgendwann habe ich schon etwas über Leitkultur geschrieben - im Glauben damit wäre es erledigt. Nun fängt keine Rede von Konservativen mehr ohne diesen Begriff an. Linke und Alternative nebst allen dazwischen und außerhalb bezweifeln dann reflexhaft, dass es so etwas gäbe bzw. die Plausibilität des Begriffs. Den Begriff finde ich allerdings einigermaßen selbsterklärend.
Meine nachgereichte Definition lautet in etwa so: Eine pluralistische Gesellschaft besteht aus verschiedensten sozialen Akteuren mit ihrer je eigenen sozialen Struktur, ihrer eigenen Verfassung gewissermaßen. Einige ihrer Vertreter*innen übernehmen die Aufgabe nach außen zu kommunizieren. Ab und an gibt es auch Einzelpersonen, die mit denkwürdigen kulturellen Produkten an die Öffentlichkeit treten. Zwischen all diesen Personen, die zur Überarbeitung unserer Kultur Vorschläge einbringen entspinnt sich ein Gespräch, eine ständige Vereinnahmung der fremden Konzepte, deren fortlaufende Kritik. Dieser Diskurs ist die Esse der Zukunft. Unsere Kultur von morgen wird auf ihren Produkten von heute aufbauen. Die aber, deren Vorschläge diese Evolution überstehen werden, bilden die Leitkultur.
Nun mag jemand einwenden, dass man mit dieser Definition die Leitkultur von heute nicht identifizieren könne. Darin gleicht mein Vorschlag der Definition großer Kunstschaffender durch meine Kunstlehrerin: Groß wären Künstler*innen in dem Maß, wie ihre Werke von der Nachwelt der weiteren Entwicklung zugrundegelegt würden. Klüger ist man immer erst hinterher! Nun kann man mit dieser Definition wenigstens nachträglich Urteile fällen. Bestimmt gehörte Alice Schwarzer zur Leitkultur Deutschlands. Rio Reiser zu kennen erleichtert einem den Zugang zum Schaffen der Antilopen Gang. Nun waren bzw. sind beide Kartoffeln streng nach konservativer Definition. Allerdings würde ich auch Jimmy Hendrix unter die deutsche Leitkultur der 70er zählen. Er war hierzulande tätig und beeinflusste unzählige Musiker*innen.
Nun waren die Vertreter*innen der Leitkultur von gestern bei ihren Zeitgenossen oft schlecht gelitten. Der Umkehrschluss der Querdenker ist, dass es ausreicht, einen obskuren Standpunkt einzunehmen, um für die Morgenröte zu stehen. Alice Schwarzer dagegen arbeitete sich an bereits beschlossenen Verfassungsrechten ab, die ausgerechnet das Establishment eben dieses Verfassungsstaates ausbremsen wollte. Rio Reiser überschritt mit seinen rebellischen Botschaften - sehr zur Empörung seiner Kommunarden - regelmäßig die Grenze zur Popkultur, wodurch Spießer von heute die Tonspur der Rebellion von gestern hören können. Morgens im Radio.
Sowohl die Epigonen als auch die kulturellen Verwerter leisten dabei die mühselige Arbeit der Normalisierung. Was uns heute selbstverständlich vorkommt, war vorgestern ein Spleen und gestern die Entdeckung ihrer Wurzeln durch die Nachkommenden. Nun könnte man sich zurücklehnen und sagen: Morgen sehen wir’s doch eh! Oder Wettbüros auf die Leitkultur von heute eröffnen. Wobei es letztere schon gibt, in Form von Trendscouts und Marketingabteilungen der Unterhaltungsindustrie zum Beispiel. Aber unter anderem ich und ja auch du, lieber Lesender, müssen bald in dieser Zukunft leben. Da ist die Frage, welche Zukunft wünsche ich mir und wo sehe ich ihre Saat aufgehen. Aber auch, vor welcher Zukunft fürchte ich mich und wer bahnt ihr den Weg.
Welche Zukunft soll aus dem Alterswerk eines superreichen Politikers erwachsen, der seinen Neidkomplex gegenüber Bürgergeldempfängern zum Programm macht? Bitte liebe Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, schickt Herrn Merz samt seinen Gleichgesinnten auf den Altenteil der Geschichte! Es gibt übrigens einen systemischer Grund, warum Konservative beim Thema Leitkultur immer auf die Wurst kommen: In ihrem rückwärtsgewandten Denken fühlen sie sich durch Vorschläge zur Überarbeitung unserer Kultur ganz prinzipiell belästigt, worauf sie mit oraler Rückversicherung reagieren. Eine solche Rückversicherung ist auch individualpsychologisch hoch plausibel. Auch ich esse regelmäßig Wurst. Sie trägt aber inhaltlich nichts zur Überarbeitung unserer Kultur bei. Rückversicherung auf Altbekanntes leitet nicht auf die Zukunft hin.
Ein zweites Problem eines sich nach Identität sehnenden Konservativen ist, dass die Leitkultur von heute so schwer zu greifen ist und in jedem Falle divers. Ihre Protagonisten sind Frauenrechtlerinnen, schwule Aktivisten, Umweltschützer und viele andere mehr. Sie machen die Vorschläge zur Verallgemeinerung und Kritik unserer Werte. Damit mögen Leitkultur und ihre morgen bestätigten Vertreter*innen viele Eigenschaften haben, die wir Stinos* erst morgen begreifen werden, eine sie in ihrer Gesamtheit kennzeichnende Identität kann sie nicht haben. Die Leitkultur einer Gesellschaft ist vor allem an ihrer Peripherie beheimatet. Sie wird vor allem von jenen angetrieben, die bislang nicht in den Genuss der den Stinos selbstverständlichen Rechte und Privilegien kamen. Oder solchen, denen unsere gesellschaftlichen Widersprüche schmerzlich bewusst werden. In beiden Fällen streben sie nach der Vergemeinschaftung von Emanzipation.
Stinos sollten also schauen, welche Protagonist*innen des kulturellen Diskurses Ansätze einer wünschenswerten Zukunft liefern und welche solche für eine Dystopie. Sie müssen entscheiden, welchen Entwürfen sie die Normalisierung, die Verallgemeinerung wünschen, um deren Vertreter*innen zu unterstützen. Dabei ist für sicherheitsliebende Stinos anzumerken, dass kaum etwas so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Gendergerechte Sprache wird erst in der soundso-vielten Kompromissversion in den Sprachgebrauch eingehen und nicht alle unsere geliebten Würste werden vegan sein. Seitan ist aber auch ganz lecker. Auch morgen wird es wieder neue Avantgarden geben - mit diversen Vorschlägen zur Gestaltung der Zukunft. Wir sollten ein Gespür dafür entwickeln, welche davon kulturell, politisch und moralisch auf die Wurst gekommen sind. Wenn man Emanzipation als das gemeinsame Anliegen großer kultureller Projekte annimmt, fällt die Identifikation garnicht so schwer. Heutige Konservative im Fahrwasser eines Söders oder Merz nehmen sich dann aus wie die sprichwörtlichen Radfahrer. Sie buckeln gegenüber ökonomischen Eliten und treten nach den eh schon Benachteiligten. Zusätzlich scheinen sie mir gegen die Fahrtrichtung aufs Rad gestiegen zu sein.
Also bitte, liebe Mitstinos, sucht Alternativen zu rechten und konservativ-elitären Zukunftsentwürfen. Macht euch dafür stark, selbst wenn euch vieles daran noch seltsam anmutet. Ich will einfach in keiner Kultur aufwachen, die mittelfristig auf die Wurst gekommen ist.

*Stino: Jugendwort der 90er für „Stink Normale*r“