Sie ist ein Problem, die
Politikverdrossenheit. Selbstredend war sie schon eins, als sie nur bewirkte, dass sich soundso viele Wahlberechtigte nicht um die Politik scherten. Wenn es aber genug dieser Untoten der Demokratie
gibt, bringen Flügel der Nichtwählerschaft eigene Bewegungen und Parteien hervor. Dies kann heilsam sein, wenn dadurch ein essenziell wichtiges Thema in die Parlamente vordringt, wie er Umweltschutz
mit den Grünen. Aktuell scheint die politische Rechte der Anwalt der Verdrossenen, ohne dass ich ein verallgemeinerbares Zukunftsthema bei ihr erkennen kann. Andere tragen ihren Verdruss direkt vor
das Haus der Bürgermeisterin oder des Bürgermeisters, um sie zu bedrohen, als wenn sie die Verursacher des Verdrusses wären. Innere und äußerere Feinde der Demokratie nutzen beide Phänomene für sich
aus.
Die Kommunalpolitik sucht so auch ständig nach
Formaten, um die Verdrossenheit aufzufangen und umzulenken. Je höher aber die politische Ebene, desto abstrakter der politische Diskurs hierzu. In der Bundespolitik spielt die AFD die Rolle eines
lauten und lästigen Zaungastes - anders als rechte Parteien bei unseren Nachbarn. Und der Fackelstrolch ist gut beraten, nicht unter den Fenstern der Kanzlervilla aufzutreten. Je mehr politisches
Gewicht also, desto weniger persönliche Veranlassung, sich um Verdrossenheit und Verdrossene zu kümmern. Politikerinnen und Politiker werden die in der Distanzierung von parlamentarischer Politik
formulierte Aufgabe also angehen, sobald sie direkte Folgen für sie persönlich hat.
Bevor jetzt Leser vor Prangern und ähnlichen Phantasien erschauern, kommt hier eine originelle Idee, die eine Kompilation zweier bekannter ist: Die Wahlbeteiligung entscheidet, welcher Anteil der
Parlamentssitze an gewählte Politiker und Parteien vergeben werden. Heißt, dass bei einer 70%igen Wahlbeteiligung eben 70% der Parlamentssitze durch Kandidatinnen und Listenplätze besetzt werden.
Aber eben auch, dass dreißig Prozent frei bleiben. Wären in einem Parlament mit 500 Sitzen immerhin 150. Diese Sitze bleiben aber nicht frei, sondern werden an Wahberechtigte verlost. Bestimmt
gibt es hier wahlrechtliche Bedenken, die aber lösbar scheinen. Damit die Lösung keine Vergrößerung der Parlamente bedeutet, würde eine Reform der Wahlkreise notwendig. Die Idee wird also
voraussichtlich nicht übermorgen umgesetzt.
Interessant wären die Folgen. Der farblose Kandidat, den die Wählerinnen und Wähler der Demokratie zuliebe wählen, wäre ein Auslaufmodell. Dagegen der, der mit originellen Ideen politisch All-In
spielt, das Zukunftsmodell. Diese Ideen würden sich insbesondere mit den Themen aktueller Nichtwähler befassen. Diese müssten mit den Ansprüchen der eigenen Wählerschaft abgeglichen werden.
Nichtwähler haben im Schnitt ein geringeres Einkommen und Vermögen, womit der gesellschaftliche Ausgleich an Relevanz für die Parteien zulegen würde. Da alle Parteien diese Synthese wagen
müssten, stünde die Hoffnung gut die Verdrossenheit zurückzudrängen und die Wahlbeteiligung zu steigern.
Die Anwesenheit der Losparlamentarierinnen ist aber ebenso nützlich wie die Steigerung der Wahlbeteiligung. Sie sind unabhängige Beobachter des parlamentarischen Prozesses. Insbesondere müsste
Ihnen erlaubt sein, Treffen von Parteipolitikern mit Lobbyisten beizuwohnen. Sie bilden sich nicht ein, den Parlamentssitz verdient zu haben und unterliegen keinem Fraktionszwang. Die gute
Arbeitsweise solcher ausgelosten Volksvertreter ist übrigens inzwischen wissenschaftlich belegt. In einem gemischten Parlament werden sie neben den gewählten Parlamentariern besondere Funktionen
erfüllen. Zur Erfüllung dieser Funktionen müssen ihnen besondere Rechte und passgenauen Ressourcen zur Verfügung stehen.
Steigt die Wahlbeteiligung, geht dies zuungunsten der Protestparteien, insbesondere am rechten Rand. Die Zaungäste im Parlament wechseln sozusagen von den Rechten Krakeelern zu interessierten
Bürgerinnen und Bürgern. Diese bekommen volle parlamentarische Bezüge und eine kleine Dienstwohnung. Arbeitgeber erhalten eine kleine Entschädigung und werden verpflichtet, die Losparlamentarier
nach dem parlamentarischen Ausflug wieder einzustellen. Passive Einkommen werden auf beides angerechnet. Insbesondere vorher sozial Benachteiligte könnten sich binnen einer Legislaturperiode
sanieren. Entweder sie gründen eine kleine Existenz, starten eine politische Karriere oder beides. Durch diese Effekte würden Parlamente nachhaltig bunter.
Nun aber zu den Bedenken: Bricht durch das Verlosen von Parlamentssitzen nicht der Mob in die heiligen Hallen ein? Erhalten nicht die Rechten Fackelträger Zugang, die ich in ihrem Einfluss
beschränken will? Das Gesetz der großen Zahl legt nahe, dass die z.B. 150 Losparlamentarier in etwa denn Bevölkerungsschnitt repräsentieren. Und der ist aktuell auch weder rechts noch anderweitig
extremistisch. Die Größe der Losfraktion würde sich auf ein demokratieförderliches Maß einpendeln. Insbesondere gutsituierte Bürgerinnen und Bürger westlicher Wohlstandsnationen wähnen sich im
Nonplusultra der Demokratie angelangt. Die bekannten Instrumente wären das endgültige und vollständige Instrumentarium der Demokratie und diese nur deren Anwendung. Demokratie ist aber ein
allgemeiner Anspruch an politische Systeme, dass ihre Bürgerinnen und Bürger deren Entwicklung gleichberechtigt beeinflussen können. Die Wahldemokratie hat hierzu noch vor Kurzem Unvorstellbares
geleistet. Ihre Konservierung wird aber bedeuten, dass sie eine Kaste der Funktionsträger herausbildet, für die Wahlen ein notwendiges Ritual darstellen. Der Zufall würde die Abschottung der
Parlamentarier immer wieder aufbrechen. Bürgerinnen und Bürger die bisher nicht beteiligt waren, erhielten so Zugang und Anreiz zu politischer Tätigkeit. Politische Funktionsträger einen
konkreten Grund, ihre Tätigkeit an Themen und Bedürfnissen der Außenstehenden zu orientieren. Solche stetigen Störungen des Systems sind seit jeher die Kneippkur der Demokratie.
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