Der Krieg, mit dem die russischen Herrscher die Ukraine überziehen, schockiert uns alle. Diese Situation erfordert zuerst praktische Solidarität. Jede und jeder von uns kann privat und im
beruflichen Umfeld Möglichkeiten suchen, unsere Haltung gegenüber den Verbrechen der russischen Armee auszudrücken und ganz einfach zu helfen. Die Spontanität dieser Reaktionen überrascht die
Herrscher Russlands gewiss und stärkt ihren Gegnern in der Ukraine und im eignen Land den Rücken.
Ich sage bewusst Herrscher, weil sie mit scheindemokratischen Strategien die Macht an sich gerissen haben, anstatt sie im Auftrag ihres Volkes auszuüben. Das provoziert auch die zweite
Reaktionsweise auf den Schock: Wir distanzieren uns vom Aggressor, auch indem wir behaupten, unser politisches System sei so ganz anders als jenes. Das ist auch weitgehend zutreffend. Wenn aber
das Bild gezeichnet wird, Putin wolle die Sowjetunion wiedererstehen lassen, werden für die langfristige Strategie wichtige Momente postsowjetischer Geschichte verdrängt.
Nachdem Gorbatschow am 19.8. 1991 aus dem Amt entfernt wurde, löste sich die Sowjetunion am 25.12.1991 auf. Präsident wurde bekanntlich Boris Jelzin, der sich von den Chicago Boys, insbesondere
Jeffrey Sachs beraten ließ. Einen Überblick gibt der Artikel https://www.spiegel.de/politik/raubtierkapitalismus-auf-russisch . Die neoliberale Boyband beriet zuvor schon Pinochet. Ihr Spiritus Mentor Milton Friedman hielt nur einen Diktator
für fähig, die Freiheit aller zu wahren, indem allen gleiche Bedingungen für den wirtschaftlichen Daseinskampf aufgezwungen würden. Immer wieder zeigte sich die Nähe, ja die Berührungsfreude
dieser angeblichen Liberalen mit der politischen Rechten. Der Urvater der Chicagoer Schule bleibt aber Friedrich Hayek. Auch dieser vertrat wirtschaftlich eine scheinbare Deregulierung, flankiert
durch einen autoritären Staat, dessen Funktionselite evolutiv aus den bewährten Wirtschaftseliten hervorgeht. Eine solche Evolution der Eliten unter den Gesetzen des Marktes hielt er zur
Steuerung der Gesellschaft für kompetenter als demokratische Gremien und Parlamente.
Das bringt man doch mit der Elite Russlands ganz gut zusammen: Die Überlebenden der genannten Auflösungsprozesse bilden den elitären Club, der die Geschicke Russlands steuert und Putin als alter
Stratege liefert den autoritären Staat dazu. Zwei kleine Details machen aber gerade diese Skizze für eine radikale Distanzierung untauglich: Friedman, Hayek und vor diesem Adam Smith sind die
geistigen Väter und Großväter der sogenannten Liberalen, die unter Freiheit vor allem verstehen, wenn man sie und ihr Klientel nicht mit Gemeinschaftsinteressen behelligt. In Deutschland beruft
sich die FDP auf diese Ahnenreihe. Aber wir können uns nicht vom Neoliberalismus befreien, indem wir die FDP mit den anderen Scheinliberalen ins Museum verbannen. Dies reicht deswegen nicht aus,
weil die Chicago Boys und ihre weitläufige Verwandtschaft verschiedenste Parteien und Institutionen erfolgreich infiltrierten und berieten. Z.B. die SPD unter Gerhard Schröder, weswegen seine
russische Männerfreundschaft nicht wundern darf. Die Sakralisierung des Marktes wurde in unterschiedlicher Portionierung und Pointierung Teil der meisten Parteiprogramme, Debattierfeld für
Grillparties und findet sich auch im zitierten Spiegelartikel. Der sieht das Problem der schockartigen Deregulierung russischer Märkte darin “(…) einen unerfahrenen, maladen Azubi dem
Hochleistungswettbewerb mit bestens trainierten Konkurrenten auszusetzen.” Problem scheint dem Autoren also nicht das Medikament, sondern Dareichungsform und Dosierung.
Das neoliberale Myzel, das auch die gemäßigten Breiten der EU befallen hat, trägt trotz moderater Dosierung bedenkliche Früchte: Wachsende ökonomische Ungleichheit, niedriges oder gar negatives
Staatsvermögen (also einen impotenten Staat), Ausfallerscheinungen bei wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben, für die wir aber gerne vom Balkon klatschen… Wir müssen auf den neoliberalen Abgesang
des Gemeinschaftlichen eine demokratische Antwort finden. Diese muss Wirtschaftsdemokratie umfassen, für die es aus z.B. dem Schweden, England, Deutschland und Frankreich des vorigen Jahrhunderts
erprobte Konzepte gibt (s. Ideologie & Kapital, Thomas Piketty). Aber auch neue Konzepte sollten erprobt werden. Nur wenn wir wieder den Mut haben, über die derzeitige Nachtwächterdemokratie
hinauszugehen, können wir autoritäre Regime und die sie stützenden Fangemeinden dauerhaft beeindrucken. Nebenbei werden wir nur so unsere aktuellen Probleme lösen und drohende Krisen
bewältigen.
Sowjetmacht + Elektrifizierung = Kommunismus, hieß es einmal. Mir scheint: Stalinismus + Chicago Boys = Putinismus. Soll die Distanzierung vom System Putin glaubhaft gelingen, muss der Westen
seine ideologische Schnittmenge mit ihm reflektieren. Dies ist unangenehm und nicht geeignet Putins Taten zu relativieren. Dies muss vielmehr jeder gesellschaftliche Akteur leisten, der die
langfristige Isolation des Agressors beabsichtigt. Diese Reflexion verschiedenster gesellschaftlicher Akteure ergibt aber auch das Immunsystem gegen den undemokratischen Liberalismus, der uns
unterschiedlich extrem in den Republikanern der USA, sogenannten liberalen Parteien Westeuropas und verschiedenen Lobbyorganisationen entgegentritt. Wir müssen aber auch Autoimmunreaktionen
aktivieren, da Begriffe wie Nudging, Anreizsystem und Dienstleistungsorientierung bis in den öffentlichen Dienst und privates Palaver vorgedrungen sind.
Solche Reflexion und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Debatten stellen tatsächlich die Systemfrage. Diese ist aber nicht mehr die Entscheidungsfrage zwischen politischen Blöcken,
sondern vielmehr die Frage, nach welchen Maßstäben, Normen und Werten wir unsere gemeinsame Zukunft gestalten wollen. Diese Frage ist und bleibt demokratisch verhandelbar. Wir dürfen sie uns bloß
weder von irgendwelchen Chicago Boys ausreden noch von aggressiven Autokraten rauben lassen.
Als erstes müssen wir alle, die wir in einer vom Krieg verschonten Demokratie leben, beweisen, dass wir aus freien Stücken wirksame Solidarität zeigen können. Sie kann schon jetzt den Unterschied
zeigen, den wir zukünftig ohne uns selbst zu schonen verwirklichen müssen.
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