Der Diplomat des kalten Krieges, Henry Kissinger, hat dem Stern ein Interview gegeben (Nr27, 30.06.2022, S. 22 ff.) Der große, alte Mann beeindruckt mit großer Nüchternheit und, insbesondere in
Bezug auf die Kriegsziele in der Ukraine, mit der notwendigen Bescheidenheit. Das Ziel die völkerrechtlich garantierte Integrität der Ukraine wiederherzustellen darf weder unter- noch überboten
werden.
Was würde eine solche Punktlandung für Putins Russland bedeuten? Die Motive, die die Machtelite den Angriffskrieg wählen ließen und die ihre Propaganda den Bevölkerungen Russlands viel zu
erfolgreich verkauft, liefen mit einem solchen Kriegsende ins Leere. Der Misserfolg des Ukrainekriegs würde den teilweisen in Tschetschenien (dazu: Jens Siegerts, https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-297/207987/notizen-aus-moskau-feudalismus-im-vielvoelkerstaat/ ) bei weitem überbieten. Das völkerrechtlich akzeptable
Kriegsende in der Ukraine wäre für das Russland Putins ein innenpolitisches Desaster.
Eine Schwächung des Systems Putins lässt auf eine Demokratisierung Russlands hoffen. Nun kann man zurückblättern, was beim letzten Demokratisierungsschub der Einheit der russischen Welt zustieß.
Am 11.3.1990 stellte Litauen seine staatliche Souveränität wieder her. In kurzer Folge erlangten Estland, Lettland, Belarus, die Republik Moldau, die Ukraine, Kirgisistan, Tadschikistan,
Turkmenistan, Usbekistan, Armenien, Aserbaidschan, Georgien und am 16.12. 1991 Kasachstan staatliche Souveränität. Dieser Zerfall überbietet sogar den des Commonwealth an Geschwindigkeit und muss
alle, die sich aus irgendwelchen Gründen mit dem russisch-sowjetischen Projekt identifizieren, schockieren.
Siegerts verweist auf die schwierige Frage, ob die Sowjetunion ein Kolonialsystem gewesen sei. Immerhin seien die Mitglieder der vereinnahmten Völker ja Bürger dieses Staates gewesen. Vollwertige
Bürger konnten sie allerdings nur durch ihre mehr oder minder freiwillige Russifizierung werden. Diese fiel in Regionen mit schwachem Autonomiestreben sanft aus. Sibirien wurde gar durch die
Opfer der Gulags erschlossen. Sowjetrepubliken mit eigenem Nationalbewusstsein dagegen wurden mit Deportationswellen, Liquidierung ihrer Eliten und staatlich organisiertem Hunger in ihrem Streben
gebrochen, allen voran die Ukraine. Die hier staatlich organisierte Hungersnot, den Holodomor, begleitet von anderen drakonischen politischen Kampagnen, beschreibt Anna Apfelbaum in ihrem Buch
“Roter Hunger” eindringlich und faktenreich.
Die Einheit Russlands erforderte also seit Lenin , auf Autonomiestreben mit Ethnozid, oder in Form systematischer Dezimierung renitenter Bevölkerungsgruppen, Genozid zu antworten. Gerade, dass
unterschiedliche Bevölkerungsteile und Regionen unterschiedlich von diesem großen, russischen Projekt betroffen waren, ermöglicht dem Erben Putin eine Propaganda, die von ehemals Begünstigten
bestätigt wird.
Daher scheint mir Herr Kissingers Satz: “Sollte Russland als Resultat des Krieges auseinanderbrechen, würde das zu Chaos in Zentralasien und dem mittleren Osten führen.” in mehrfacher Hinsicht
bedenklich. Die Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken verursachte für sich genommen keine globale Instabilität. In Sachen Demokratie entwickeln sie sich sehr unterschiedlich, es gibt
furchtbare ethnische Konflikte und als Teil einer globalen russischen Strategie der Destabilisierung, deren Instrumentalisierung. Die Gefahr für die globale Sicherheitsarchitektur geht von keinem
der jungen Staaten aus, sondern von Putins Russland. Russland ist global der Bündnispartner der Autokraten und der Gegner der Demokratien. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist dazu nur der
bislang letzte Beweis.
Im kalten Krieg standen sich zwei zur Vernichtung der Welt gerüstete Blöcke gegenüber. Im Ostblock rechtfertigte diese Situation die stalinistischen Verbrechen, wofür ausgeblendet werden musste,
dass diese schon vor der Konfrontation mit dem Kapitalismus, namentlich den USA einsetzten und eine Kontinuität mit den von Lenin und Trotzki instruierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit
bilden. Im Westen konnten gesellschaftliche Bewegungen nur nachhaltig Erfolg haben, insofern sie die Systemfrage konkreten Reformprojekten unterordneten. Die Angst vor dem sowjetischen Einfluss
veranlasste insbesondere die politischen Eliten der USA gegen Aktivisten im eigenen Land deren Menschenrechte auszusetzen und gegen linke Regierungen in ihrem Einflussbereich völkerrechtswidrig
vorzugehen. Dieser Reflex wäre vermeidbar gewesen, wenn man frühzeitig analysiert hätte, dass es sich bei der Sowjetunion um kein linkes Projekt handelte. Diesem Irrtum erlagen auf der anderen
Seite auch linke Bewegungen in ihrer Bündniswahl und linke Nostalgiker erliegen ihm bis heute. Klarstellung: Putin ist ein Rechter, Lenin und Stalin waren ebensolche, verdrängten es aber durch
ausdauernde Marxlektüre.
Vor allem Staaten als politische Akteure anzusehen spricht aus Herr Kissingers historischer Einschätzung: “Man kann die europäische Geschichte seit dem 17. Jahrhundert nicht ohne Russland sehen,
bei jeder großen Wendung spielte Russland eine Rolle.” Seit 1989 tritt ein seltsames Phänomen immer wieder auf: Demonstrierende Bevölkerungen zwingen ihre Regierungen zu politischen
Paradigmenwechseln. Erst solche Akte komplettieren Demokratie, indem Handlanger äußerer Mächte demontiert werden und allen nachfolgenden Regierungen das Risiko solcher Bewegungen ins
Hausaufgabenheft geschrieben wird. Damit ist die Frage des demokratischen Souveräns geklärt: die sich solidarisierenden Vielen, die ihr Schicksal gemeinschaftlich in die Hand nehmen.
Ich stelle mir die Frage, wer mit welchen Mitteln das System Putin nach dem notwendigen Desaster vor den vielen Enttäuschten schützen kann. Und wie? Kenner nennen einerseits die nicht russischen
Völker, in den Wolgarepubliken und vor allem Tschetschenien. Neben den gewaltsam befriedeten ethnischen und kulturellen Spannungen gibt es aber auch immer größere Gruppen die von der
ausbleibenden Modernisierung der russischen Gesellschaft enttäuscht sind. Nach dem Ukrainekrieg kommen die enttäuschten Anhänger von Putins nationalistischem Projekt, die sich entweder vom
russischen Nationalismus abwenden oder sich radikalisieren können. Ohne die nationalistischen Versprechungen bricht die soziale Frage wieder auf. Bislang glaubte das russische Prekariat, seinen
Verhältnissen entkommen zu können, indem es in der russischen Armee Gewalt im Sinne der Eliten verübte. Diese Perspektive wird ohne einen Sieg über die Ukraine ihres Realitätsgehalts beraubt.
Nicht nur von außen fragen sich viele, wann der russische Bär wohl gegen dieses Desaster aufsteht.
Eine Menge von Enttäuschten ist noch keine politische Bewegung. Ohne umsetzbares Ziel verliert aber auch das Geeinte Russland Putins diesen Charakter großteils. Im riesigen Russland können sich
in den verschiedenen Regionen ganz unterschiedliche Akteure finden, die einen Ausweg aus der Enttäuschung aufzeigen können. Dies kann die Demokratisierung der russischen Gesellschaft bedeuten und
Autonomiebewegungen nichtrussischer Teilrepubliken. Beide stellen kein Stabilitätsrisiko für internationale Politik dar, auch wenn ihr Erfolg noch fraglich ist. Wegen der atomaren Macht Russlands
stellen allerdings die Reaktionen russischer Nationalisten auf beide Bewegungen ein global relevantes Risiko dar.
Ein völkerrechtlich vertretbarer Frieden in der Ukraine wird weder das System Putin noch den russischen Nationalismus im Handumdrehen verschwinden lassen. Die Interessen der Russen, der russische
Nationalismus und die Interessen der putinschen Machtclique müssen sauber unterschieden werden. Trotzdem müssen sich die demokratischen Staaten, unter ihnen die Ukraine mittelfristig auf die
Existenz der russischen Diktatur einrichten. Die Stabilität des Vielvölkerstaates Russland kann aber kein Projekt außerhalb von Russland selbst sein. Die Stabilität des Systems Putin und seine
strategischen Interessen auf nationaler wie internationaler Ebene schon garnicht. Nachdem Wandel durch Handel den Ukrainekrieg ermöglicht hat, sollten demokratische Staaten in Bezug auf
Diktaturen und Autokratien perspektivisch ein viel banaleres Paradigma demokratischer Außenpolitik umsetzen: Bitte nicht füttern!
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