Das Märchen von der Vollständigkeit

 

 

In einem Kollegenschwatz benutzte ich - selbstredend in humoristischer Absicht - den Begriff der besseren Hälfte, um mir einen Vortrag eines jungen Kollegen darüber einzuhandeln, dass das Konzept einer Liebesbeziehung, in der der eine Mensch zur Vervollständigung des anderen herhalten müsse, veraltet und psychologisch äußerst bedenklich wäre. Nun ich kann meiner Ehefrau tatsächlich kaum diesen Job abnötigen. So weit kann wohl kein Eheversprechen gehen.

 

Dass aber diese Jobbeschreibung unzumutbar ist, ein unsittlicher Vertrag geradezu, ändert so gar nichts daran, wie ich dastände, würde sie - so plötzlich wie sie in mein Blickfeld trat – aus meinem Leben verschwinden. Nun taugt unsere Beziehung nicht ohne Auslassung zum Kitschroman. Aber nach wem würde ich wohl rufen? Ach was, ich muss gar keinen fernen Notfall imaginieren. Sogar in einem alltäglichen Ehestreit rufe ich innerlich nach ihr. Unterstehen Sie sich, ihr das zu stecken!

 

Nun mag den jungen Kritiker überraschen, dass meine Frau sich von mir unterscheidet – über die kabarettabilen Geschlechterdifferenzen hinaus. Bei meiner Frau würde dieser Aufsatz um einiges zugewandter klingen, weniger bemühte Sophismen. Der Mensch aber neigt zur Arbeitsteilung, was das Dilemma auf die Spitze treibt: Mit der Dauer der Beziehung werde ich wohl unvollständiger und unvollständiger. Meine Frau tut, was ich lassen muss. Love is a loosing game! Das einzig Gute daran ist, dass niemand meine Frau für die ausbleibende Vervollständigung meiner Person in Gewährleistung nehmen kann.

 

Hinzu kommt, dass ich meine Frau in der Blüte meiner Jugend in die Ehe gelockt habe – oder war es umgekehrt? Der Punkt ist, dass wohl kurz danach der Beginn der Verfallsprozesse datiert, die die Komplettierung meiner Persönlichkeit zu einem Investitionsgrab machen müssen. Wenn ich nun aus diesem hoffnungslosen Paradox Ausflucht nehmen will, indem ich auf unsere Kinder zeige, setzt eben die gleiche Diskussion irgendwo da oben wieder an. Nun sind meine Beziehungen zu einigen wenigen Menschen intensiv, was heißt, dass sie nicht gegeneinander  abwägbar sind.  Das sind die Meinigen.

 

Ich bin unvollständig, beschädigt. Diese Feststellung ist nichts weniger als kokett. Ich bin es sogar in einem Maß, das nach Abhilfe schreit. Ich habe eine Macke. Und wer ohne Macke ist, werfe den ersten Leserbrief. Nun könnten Rationalisten aus der Tatsache, dass dieser Umstand nicht behebbar ist, folgern, wir sollten uns nicht um ihn kümmern. Dann würden wir rufen, ohne gehört zu werden. Kaum jemand sollte sich der Illusion hingeben, er könnte das Rufen aufgeben. Und niemand sollte seine Ohren gegen die absurden Gebete verschließen. Das hätte wohl die hässlichste aller Macken zur Folge!

 

Immerhin helfen wir uns das Leben, dieses fragmentierte Drama mit seinen desolaten Figuren, hier und da zu genießen. In der Freude aneinander, im Glück scheinen wir ein wenig heiler. Morgen, übermorgen werden wir wohl scheitern. Ich rufe schon, wenn ein Tag sich neigt, obwohl ich auf den nächsten Morgen hoffen kann. Von der Nacht habe ich keine Ahnung. Ich hoffe, dass meine Liebe mich bis an deren Rand begleitet und ich hoffe auch auf einen schönen Weg. Allein verlauf ich mich übrigens alle Nase lang. Fragen Sie meine Frau!

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Jakob Klein - der Provinzpoet (Samstag, 13 November 2021 20:42)

    Ich habe mehr wie eine Macke, traue mir dennoch den ersten Leserbrief zu entwerfen. Mal sehen, ob sich nun andere vom Beispiel anstecken lassen. Es ist gut, wenn der Mensch nicht alleine ist und die andere, bessere Hälfte offenbart durch ihre Andersartigkeit mir mehr von mich, als wenn ich mein Konterfei lediglich im Spiegel betrachte. Erst in einer Beziehung lernt der Mensch sich kennen und in der Gemeinschaft kann er sich entwickeln. Ob zwei Hälften automatisch zur Vollständigkeit führen, bezweifle ich da schließlich Vollkommenheit keine Perfektion ist. Bei uns fahre ich, die Karte liest meine bessere Hälfte.